Gotteszahl
Weise gelebt hatte, ganz, ganz allein.
Es klingelte an der Tür, so spät und unerwartet, dass die Frau einen kleinen Schrei ausstieß.
Sie machte auf und erkannte ihn. Seit ihrer letzten Begegnung war eine Ewigkeit vergangen, aber die Augen waren dieselben. Er weinte, so wie sie, und fragte, ob er hereinkommen dürfe. Sie wollte nicht. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie wollte niemanden sehen.
Als sie ihn hereinkommen ließ und die Tür hinter ihm schloss, bat sie Gott um die Erlaubnis, zu erwachen.
Bitte, lieber Gott, bitte bitte bitte.
Mach, dass ich jetzt aufwache.
» Um diese Zeit ist doch kein Mensch mehr wach! «
Beate Krohn starrte den Chefredakteur verzweifelt an. Es ging auf Mitternacht zu. Sie waren allein in der Redaktion, zwischen flimmernden Bildschirmen und dem Rauschen von Rechnern und Belüftungsanlage. Jemand hatte ein wenig Weihnachtsschmuck befestigt. Ein Band mit rotem Glitzer hier, eine Kette aus kleinen norwegischen Flaggen dort. In einer Ecke stand ein zerzauster Weihnachtsbaum. Fast alle Pralinen und Plätzchen, die zum Trost für die gedacht waren, die über Weihnachten arbeiten mussten, waren verzehrt. Überall lagen Papiere und alte Zeitungen herum.
»Und deine Eltern?«
Er ließ nicht locker. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, und dieser klare Verstoß gegen sämtliche Regeln beeindruckte sie wider Willen.
»Die schlafen auch«, sagte sie. »Und ich würde ihnen eine Höllenangst einjagen, wenn ich so spät noch anriefe. Wir haben dafür Regeln in unserer Familie. Nicht vor halb acht Uhr morgens, nicht nach zehn Uhr abends. Es sei denn, jemand ist gestorben.«
»Aber es ist doch jemand gestorben!«
»Nicht so, ich meine ..«
Er unterbrach sie mit einem energischen Lungenzug und einer ungeduldigen Handbewegung. »Jetzt zeig ich dir, wie man das macht«, sagte er grinsend. »Sieh zu und lerne.«
Seine Finger machten sich am Mobiltelefon zu schaffen, dann legte er es an sein rechtes Ohr. »Hallo Jonas. Du, hier ist Sølve.«
Drei Sekunden Stille.
»Sølve Børre, zum Henker. Vom NRK, Mann! Wo bist du?«
Beate Krohn hatte einmal gelesen, die üblichste Eröffnung von Mobiltelefongesprächen in aller Welt sei die Frage, wo der Gesprächspartner sich befinde. Seither bemühte sie sich, diese Frage niemals zu stellen.
»Also hör zu, Jonas. Gestern Abend ist Bischöfin Lysgaard gestorben, das hast du sicher mitgekriegt. Und sicher ist es …«
Offenbar wurde er unterbrochen.
»Sicher. Sicher. Aber ich möchte nur wissen, woran sie gestorben ist. Nur so aus Interesse. Hab so ein Feeling, verstehst du, ein …«
Pause.
»Aber kannst du nicht einfach jemanden von denen anrufen? Bestimmt ist dir da irgendwer einen Gefallen schuldig. Kannst du nicht …«
Wieder wurde er unterbrochen. Er zog so heftig an seiner Zigarette und der Rauch legte sich so dicht um ihn, dass Beate Krohn schon fürchtete, der Feueralarm könne losplärren. Sie trat einen Schritt zurück, damit ihre Kleider den Gestank nicht annahmen.
»Sehr schön, Jonas. Sehr schön. Ruf mich an. Scheißegal wie spät.«
Er drückte das Gespräch weg. »So«, sagte er und ließ die Finger über die Tastatur laufen. »Komm her, dann zeig ich dir was. Sieh dir mal diese Meldung an.«
Beate beugte sich zögernd über seine Schulter und las die Meldung der Nachrichtenagentur über den Tod von Bischöfin Lysgaard. Die Meldung hatte sich nicht verändert, seit sie sie zuletzt gesehen hatte.
»Fällt dir etwas auf?«, fragte der Chefredakteur.
»Nein.«
Sie hüstelte diskret und wandte sich ab.
»Ich habe keine Ahnung, wie viele solcher Meldungen ich in meinem Leben schon gelesen habe«, sagte er unbeeindruckt. »Aber es müssen viele gewesen sein. Sie ähneln sich im Grunde wie ein Ei dem anderen. Feierlich formuliert und ansonsten ziemlich neutral. Aber sie sagen fast immer etwas mehr als nur, dass jemand gestorben ist. NN verstarb ganz überraschend bei sich zu Hause. XX verschied nach kurzer Krankheit. NN kam gestern Abend bei Drammen durch einen Autounfall ums Leben. So was eben.«
Seine Finger zeichneten so viele Anführungszeichen in die Luft, dass Asche auf die Tastatur rieselte. Die war ohnehin schon so abgegriffen, dass die Buchstaben kaum zu erkennen waren.
»Aber hier«, sagte er und zeigte auf die Meldung, »steht nur, ›Bischöfin Eva Karin Lysgaard starb gestern Abend. Sie war zweiundsechzig Jahre alt.‹ bla bla bla.«
»Das muss doch nichts zu bedeuten haben«, sagte sie mit
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