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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Zeit vergehen zu hören.
    Staub tanzte im Licht vor dem Fenster.
    »Du musst essen, Vater.«
    Erik hob den Blick, und behutsam nahm er zum ersten Mal seit Eva Karins Tod die Hände des Sohnes in seine. »Nein. Du musst essen. Du musst weiterleben.«
    »Vater, du …«
    »Du warst der Sohn unseres Glücks, Lukas. Nie ist ein Kind willkommener gewesen als du.«
    Lukas schluckte und lächelte. »Das sagen alle Eltern. Ich sage das meinen Kindern auch.«
    »Aber es gibt so viel, was du nicht weißt.«
    Die Geräusche der Stadt schienen nicht in das tote Haus am Nubbebakken eindringen zu können. Lukas spürte nicht einmal sein eigenes Herz schlagen.
    »Wie meinst du das?«, fragte er.
    »Mit einem Menschen verschwindet so viel. Mit Eva Karin ist alles verschwunden. So muss es sein.«
    »Ich habe das Recht, es zu erfahren, Vater. Wenn etwas mit Mutters Leben, mit eurem Leben, wenn da …«
    Das trockene Lachen des Vaters machte ihm Angst. »Du brauchst nur zu wissen, dass du ein geliebtes Kind warst. Du warst immer meine und deiner Mutter große Liebe.«
    »Das war ich?«
    »Mutter ist tot«, sagte der Vater mit harter Stimme. »Und ich selbst werde wohl nicht mehr lange leben.«
    Lukas ließ unvermittelt die Hände des Vaters los und setzte sich gerade. »Nimm dich zusammen«, sagte er. »Jetzt musst du dich endlich zusammennehmen.«
    Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her. »Das muss aufhören. Jetzt. Sofort! Hörst du, Vater? «
    Der Vater reagierte nicht auf diesen heftigen Ausbruch. Er saß in seinem Sessel mit demselben leeren Ausdruck im Gesicht wie seit fünf Tagen.
    »Ich lasse mir das nicht gefallen«, rief Lukas. »Mutter lässt sich das nicht gefallen!«
    Er riss eine Porzellanfigur von einem Beistelltisch vor dem Fernseher. Zwei Schwäne in einem zarten Herzen, das Hochzeitsgeschenk von Eva Karins Eltern. Es hatte acht Umzüge überlebt und zu den liebsten Besitztümern der Mutter gehört. Lukas würgte die Schwäne mit beiden Händen und schlug sie so fest gegen seinen Oberschenkel, dass es wehtat. Die Figur zerbrach. Die scharfen Kanten der Scherben bohrten sich in seine Handflächen. »Du darfst nicht sterben! Du darfst verdammt noch mal nicht sterben!«
    Das war nötig gewesen.
    Lukas Lysgaard hatte nie, nicht einmal in der trotzigsten Jugendphase, gewagt, vor den Ohren seiner Eltern zu fluchen. Jetzt sprang der Vater schneller auf, als Lukas ihm das zugetraut hätte. Mit drei Schritten stand er bei ihm und hob den Arm mit geballter Faust bis vor die Wange des Sohnes. So blieb er stehen, wie erstarrt in einem absurden Tableau; größer jetzt und breiter. Der ganze Mann weitete sich aus. Lukas hielt den Atem an. Er fürchtete sich unter dem Blick des Vaters, als wäre er wieder ein trotziges Kind. Papas kleiner Knabe.
    »Warum war Mutter an dem Abend unterwegs?«, flüsterte er.
    Erik ließ die Hand sinken. »Das geht nur Eva Karin und mich etwas an.«
    »Ich glaube, ich weiß es.«
    »Sieh mich an.«
    Lukas musterte seine geöffneten Handflächen. Unter jeder Daumenwurzel klaffte ein tiefer Schnitt.
    »Sieh mich an«, sagte Erik noch einmal.
    Als Lukas noch immer nicht das Gesicht hob, spürte er die Hand des Vaters an seiner unrasierten Wange. Endlich schaute er auf.
    »Du weißt nichts«, sagte Erik.
    Doch , dachte Lukas. Vielleicht habe ich es immer schon gewusst. Jedenfalls schon lange.
    »Du weißt wirklich nichts«, beharrte sein Vater.
    Sie standen so dicht beieinander, dass jeder den Atem des anderen spürte. Und wie böse Gedanken sich zu harten Geheimnissen verkapseln, wenn sie nie mit jemandem geteilt werden, so besaßen sie jetzt beide eine Gewissheit über etwas, von dem sie glaubten, dass der andere es nicht wüsste. Sie standen einfach da, jeder auf seine Weise beschämt, und hatten einander nichts zu sagen.
    »Es ist mir ja peinlich, das sagen zu müssen, Synnøve, aber in solchen Fällen warten wir erst einmal ab.«
    Kjetil Berggren hatte die Temperatur in dem kleinen Raum immerhin senken können. Jetzt saß er mit vorschriftswidrig hochgekrempelten Hemdsärmeln da und trommelte zerstreut mit einem Bleistift auf dem Oberschenkel.
    Sie hatte alles wahrheitsgemäß geschildert. Dass sie mit jedem Wort Mariannes Verschwinden weniger verdächtig gemacht hatte, wurde ihr erst jetzt klar.
    »Na gut«, sagte sie kleinlaut.
    »Da ist noch etwas: Du hast bisher nicht mit ihren Eltern gesprochen.«
    »Marianne hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen, seit wir zusammengezogen sind.«
    »Das ist

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