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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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fast einen Kopf größer war als Marcus, musste er sich vorbeugen, um dem gesenkten Blick des Freundes zu begegnen. »Ist das … Hast du wieder diese Panikattacke?«
    »Nicht doch.« Marcus lächelte. »Das ist viele Jahre her. Du hast mich geheilt, das hab ich dir doch gesagt.«
    Es war schwer, die trockene, betäubte Zunge zu bewegen. Seine Hände waren feucht vom kalten Schweiß und er steckte sie in die Tasche.
    »Willst du einen Schluck Wasser? Soll ich dir Wasser holen, Marcus?«
    »Danke, das wäre gut. Ein Schluck Wasser, dann ist alles wieder in Ordnung.«
    Rolf verschwand.
    Marcus war allein.
    Wenn er nur nicht so allein gewesen wäre. Wenn er nur von Anfang an mit Rolf gesprochen hätte. Sie hätten eine Lösung gefunden. Gemeinsam hätten sie erkannt, was das Beste wäre, gemeinsam könnten sie alles schaffen.
    Er atmete heftig und schlug sich mit den Handflächen auf beide Wangen. Er brauchte keine Angst zu haben.
    Er fasste noch einmal diesen Entschluss: Er brauchte keine Angst zu haben!
    Er hatte kurz nach Weihnachten in Dagens Næringsliv einen Artikel über Niclas Winter gelesen. Zwischen den Zeilen war zu ahnen, dass der Mann an einer Überdosis gestorben war. Solche Dinge wurden natürlich nicht offen gesagt, jedenfalls nicht gleich. Der Tod des Künstlers wurde seinem unorthodoxen Lebensstil geschuldet, wie es rücksichtsvoll formuliert wurde. Der Kampf um die Rechte an den nicht verkauften Kunstwerken war schon im Gange. Drei Galeristen und ein Kurator taxierten sie jetzt doppelt so hoch wie eine Woche zuvor. Der Artikel war interessanter, als der Platz, der ihm eingeräumt worden war, annehmen ließ. Sicher würden sie noch mehr zum Thema bringen.
    Niclas Winter war an einer Überdosis gestorben, und Marcus Koll jr. hatte nichts zu befürchten. Er konzentrierte sich auf diesen Gedanken, bis Rolf mit einem großen Glas Wasser angelaufen kam.
    Die Eiswürfel klirrten, als er alles auf einen Zug leerte. »Danke«, sagte er. »Jetzt geht’s mir wieder richtig gut.«
    Ich habe nichts zu befürchten, dachte er, als er anfing, den Tisch zu decken. Rote Tischdecke, rote Servietten mit Silberfäden, weihnachtsgrüne Kerzen in Leuchtern aus in Silber gefasstem Glas. Niclas Winter ist selbst schuld, dachte er starrköpfig, er hätte die Überdosis ja nicht zu setzen brauchen.
    Sein Tod hat nichts mit mir zu tun.
    Fast wäre er sich sicher gewesen.
    Trude Hansen war ziemlich sicher, dass Silvester war.
    Noch immer war ihre winzige Wohnung ein Chaos aus Essensresten, leeren Flaschen und schmutziger Kleidung. Silberpapierfetzen lagen überall, und ein Pizzakarton in einer Ecke diente der verängstigten Katze, die wimmernd auf der Fensterbank saß, als Katzenklo.
    »Aber, aber, Pussi! Aber meine kleine Pussi! Komm doch zu Mama!«
    Das Tier fauchte und machte einen Buckel.
    »Darfst doch nicht böse auf Mama sein!«
    Ihre Stimme war kleinlaut und hell. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie Pussi gefüttert hatte. An diesem Tag jedenfalls noch nicht. Gestern vielleicht auch nicht. Nein, nicht gestern, denn da war sie so sauer gewesen, weil das Scheißvieh auf die Pizza gepinkelt hatte.
    »Pst, schsch!«
    Trude streckte die Hand nach der Katze aus, und die jagte wie eine bepelzte Rakete über das Sofa.
    Bestimmt war Silvester, glaubte Trude.
    Sie versuchte, das Fenster zu öffnen. Das hatte sich verklemmt, und sie riss einen Nagel ab. Endlich ging es auf, plötzlich und mit einem Krachen. Eiskalte Luft drang in das stickige Zimmer, und Trude lehnte den Oberkörper über die Fensterbank.
    Über den Häusern im Osten, den alten Mietshäusern, die den direkten Blick auf den Sofienbergpark versperrten, sah sie Raketen. Rote und grüne Leuchtkugeln fielen langsam zu Boden, und Lichtfontänen sprühten über den Himmel. Schon verbreitete der Pulverrauch sich in den Straßen. Trude liebte den Feuerwerksgeruch. Zum Glück gab es immer Leute, die nicht bis Mitternacht warten konnten.
    Sie hatte nur noch einen Schuss. Den hatte sie für den Abend aufbewahrt; der Tag war erträglich gewesen, dank einer Flasche Schnaps, die jemand unter dem Bett versteckt hatte.
    Es war schwierig zu sehen, wie spät es war.
    Als sie das Fenster schließen wollte, schlüpfte Pussi noch schnell hinaus. Das Tier lief über das schmale Gesims, dann setzte es sich zwei Meter weiter hin und miaute.
    »Komm doch, Pussi! Komm doch zu Mama!«
    Pussi putzte sich ungerührt.
    »Pussi«, nuschelte Trude, so streng sie konnte, und streckte den Arm

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