Gotteszahl
schon klar«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über seine Stoppelfrisur. »An sich stimme ich dir ja zu, dass es Grund zur Sorge gibt. Es ist nur so, dass …«
Er war jetzt merklich weniger wohlwollend als vor anderthalb Stunden, als er sie vor Ola Kvam gerettet hatte. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und machte sich schon längst keine Notizen mehr. »Man muss normalerweise zuerst bei den nächsten Angehörigen anfragen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du eigentlich mit niemandem gesprochen. Nicht einmal mit ihren Eltern«, betonte er.
Als ob die Eltern einer zweiundvierzig Jahre alten Frau alle Antworten wüssten.
»Sie sind nicht gekommen, als wir geheiratet haben«, sagte Synnøve müde. »Woher um alles in der Welt sollten sie jetzt plötzlich etwas über Marianne wissen?«
»Aber sie wollte doch die Tante ihrer Mutter besuchen, war das nicht so? Es wäre doch möglich, dass die Mutter …«
»Diese Großtante ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Hör zu, Kjetil. Marianne hat sich vor über dreizehn Jahren nach einem schrecklichen Streit mit ihren Eltern überworfen. Dabei ging es natürlich um mich. Sie hat nur noch eine Art Kontakt zu ihrem Bruder. Die Großeltern sind tot, und der Vater ist ein Einzelkind. Die Mutter übt eine eiserne Kontrolle über ihre eigenen Geschwister aus. Marianne hat mit anderen Worten so gut wie keine Familie. Dann kam im Herbst ein Brief von dieser Großtante. Sie ist vor Mariannes Geburt ausgewandert und war in der Familie … persona non grata. Bohemienne. Hatte Anfang der Sechzigerjahre einen Afroamerikaner geheiratet, was damals in den feinen Familien in Sandefjord nicht gerade üblich war. Dann hat sie sich scheiden lassen und ist nach Australien gegangen. Sie …«
Synnøve unterbrach sich. »Warum erzähle ich dir lauter irrelevante Dinge über eine verschrobene alte Dame, die plötzlich entdeckt hat, dass sie eine Großnichte hat, die von ihrer Familie genauso verstoßen worden ist wie sie selbst? Es geht doch darum, dass Marianne nie bei der Tante angekommen ist!«
Als sie mit den Armen fuchtelte, traf sie eine volle Kaffeetasse. Sie fluchte, als die heiße Flüssigkeit ihre Oberschenkel traf, und sprang auf.
Ehe sie sich’s versah, stand Kjetil Berggren mit einer Mineralwasserflasche neben ihr. »Hat das geholfen? Soll ich Kaltes nachgießen?«
»Nein, danke«, murmelte sie. »Das geht schon. Danke.«
Kjetil Berggren zog Papierhandtücher aus einem Gestell neben einem kleinen Waschbecken in der Ecke. »Hinzu kommt noch, dass sie schon vorher einmal verschwunden ist«, sagte er mit dem Rücken zu ihr.
Synnøve ließ sich wieder auf den unbequemen Stuhl sinken. »Sie war nicht verschwunden. Sie hatte Schluss gemacht. Das ist etwas ganz anderes.«
»Hier.«
Er reichte ihr einen dicken Stapel Papierhandtücher. »Du hast gesagt, dass sie damals vierzehn Tage fort war«, sagte er und setzte sich wieder. »Ohne sich zu melden, meine ich. Ich glaube, du verstehst, dass das nicht ohne Bedeutung ist, Synnøve. Dass die Frau … dass Marianne vor drei Jahren nach einem heftigen Streit einfach nach Frankreich gefahren ist, ohne dir auch nur mitzuteilen, wo sie ist. Solche Dinge müssen wir hier bei der Polizei berücksichtigen, wenn wir entscheiden, ob wir wirklich alle Kapazitäten …«
»Aber wir haben uns nicht gestritten. Wir haben uns überhaupt nicht gestritten.«
Er kam um den Tisch herum und stellte einen Fuß neben ihr auf den Stuhl. Das war vermutlich als freundschaftliche Geste gemeint.
»Ich sehe aus wie ein Bergrutsch«, murmelte sie und wich zurück. »Und stinke wie ein Pferd. Tut mir leid.«
»Synnøve«, sagte er ruhig, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie recht hatte.
Seine Hand war warm, als er sie auf ihre Schulter legte. »Ich werde natürlich tun, was ich kann. Ich nehme jetzt deine Vermisstenmeldung entgegen. Das ist immerhin ein Anfang. Aber ich kann dir nicht garantieren, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen. Nicht sofort jedenfalls. Inzwischen gibt es aber genug, was du selbst tun kannst.«
Sie erhob sich. Vor allem, um sich seiner Berührung zu entziehen, die ihr überraschend wenig willkommen war. Als sie nach ihrem Pullover griff, trat Kjetil Berggren zur Seite.
»Setz dich ans Telefon«, sagte er. »Ihr kennt so viele Leute. Wenn da vielleicht … Untreue im Spiel ist …«
Zum Glück hatte sie den Pullover über dem Kopf. Sie wurde sehr schnell rot. Sie machte sich an dem Kleidungsstück
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