Gotteszahl
einiges größer als sie. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, auf den Tisch zu steigen, gab diese Idee aber gleich wieder auf. Sie legte von hinten die Arme um ihn, verschränkte die Hände und hielt den rechten Daumen an seinen Körper. Dann drückte sie aus Leibeskräften zu.
Drei schwarze Geschosse flogen aus seinem Mund.
Er hustete, rang nach Atem. »Danke«, keuchte er. »Ich konnte nicht … Sieh mal da!«
Er zeigte auf die Wand gegenüber. Die Halspastillen waren als Dreieck an die Wand geflogen, voneinander nicht mehr als einen halben Zentimeter getrennt.
»Fast ins Schwarze«, sagte er.
Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und setzte sich wieder. »Kannst du mir jetzt erzählen, was das für ein Abzeichen ist?«
Seine Stimme klang noch immer verzerrt, als er sich noch einmal räusperte und sagte: »Der norwegische Frauensanitätsverein.«
»Was?«
»Die Buchstaben N, K und S. Norske Kvinners Sanitetsforening.«
Sie riss die Zeichnung an sich, als ob er sie beleidigt hätte. Ein rotes Kleeblatt mit Stängel, und ein Buchstabe auf jedem Blatt. »Ich muss das überprüfen«, murmelte sie und tippte den Vereinsnamen ins Sucherfeld auf dem Bildschirm.
»Siehst du«, sagte Knut Bork. »Ich sag’s ja.«
Sie starrte die Webseite des Vereins an.
Das Logo war ein rotes Kleeblatt mit den weißen Buchstaben NKS.
»Was zum …«
Die Gedanken wollten sich in keine brauchbare Reihenfolge bringen lassen. »Ein Freier und möglicher Mörder«, begann sie stockend. »Männlichen Geschlechts. Läuft durch die Gegend. Liest Knaben auf. Im Zentrum von Oslo.«
Sie schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mit einem Mitgliedsabzeichen der norwegischen Sanitäterinnen am Revers. Was in aller Welt soll das denn? Will er uns zum Narren halten?«
Knut Bork nahm die Zeichnung und ging zur Pinnwand neben dem Fenster. Er brachte das Bild dort an und trat zwei Schritte zurück. »Vielleicht tut er genau das, Silje. Vielleicht hält dieser Bursche uns zum Narren.«
Als der Anrufer behauptete, von der Polizei zu sein, glaubte Marcus Koll jr. für einen Moment, jemand wolle ihn zum Narren halten. Als er Sekundenbruchteile später begriff, dass er sich geirrt hatte, stand er auf, lief im Wohnzimmer auf und ab und konzentrierte sich dermaßen darauf, unberührt zu wirken, dass er gar nicht mitbekam, was der Anrufer eigentlich sagte.
Sie konnten unmöglich etwas wissen.
Es war ganz einfach nicht vorstellbar.
Er blieb bei den großen Südfenstern stehen.
Der leicht abfallende Garten wurde angestrahlt. Tief verschneite Tannen am Hang wirkten vor der kompakten Dunkelheit auf der anderen Seite des Lattenzauns fast fluoreszierend eisblau. Außerhalb seines Grundstücks schien es keine Welt mehr zu geben.
Nur das Telefon.
»Verzeihung«, sagte Marcus und versuchte, ein Lächeln in seine Stimme zu legen. »Würden Sie das bitte wiederholen? Gerade war für einen Moment die Verbindung gestört.«
»Der Tipp«, sagte die Stimme, hörbar ungeduldig. »Sie haben am Montag etwas über diese Einbrecherbande mitgeteilt.«
Ein leichter Windstoß ließ Schnee vom nächststehenden Baum rieseln. Die trockenen Kristalle glitzerten im Lampenlicht. Unten im Garten standen zwei hohe Fichten mit nackten, kerzengeraden Stämmen und runden Kronen, wie zackige Soldaten auf Posten.
Marcus versuchte, die Erleichterung zu verarbeiten.
Er hatte recht gehabt. Natürlich wussten sie nichts.
Es gab keinen Grund zur Besorgnis.
»Ach«, sagte er nur. »Nein, das war ich nicht.«
»Spreche ich nicht mit Rolf Slettan?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Unter der Nummer 2307****?«
»Nein«, sagte Marcus und konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen. »Das ist mein Mann, Rolf. Er hat Sie angerufen. Ich bin Marcus Koll. So habe ich mich ja auch gemeldet.«
Zwei Sekunden Stille am anderen Ende der Leitung.
Der Augenblick des Andersseins, dachte Marcus, dieser Moment stummer Verwirrung. Oder Verachtung. Oder von beidem etwas. Er war daran gewöhnt, wie alle sich an ihr Stigma gewöhnen, wenn sie es lange genug tragen. Ehe Cusi in die Schule gekommen war, hatte Marcus Koll jr. sich von Dagens Næringsliv porträtieren lassen, als der einzige Homosexuelle mit Mann und Kind auf der Liste der hundert reichsten Männer des Landes. Er hatte gehofft, Cusi vor dieser Pause beschützen zu können. Wenn alle es wüssten, brauchten sie diese Pause nicht mehr.
Nicht alle lasen Dagens Næringsliv, das war ihm
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