Gotteszahl
einige Wochen später klar geworden.
»Ach ja«, hörte er endlich am anderen Ende der Leitung. »Ist … ist er denn da? Rolf Slettan?«
»Ja. Aber er bringt gerade unseren Sohn ins Bett.«
Jetzt dauerte das Schweigen so lange, dass Marcus schon glaubte, die Verbindung sei unterbrochen worden.
»Hallo«, sagte er laut.
»Ja, sicher«, antwortete der Mann. »Ich bin hier. Könnten Sie ihn bitten, mich anzurufen? Seine Mitteilung ist einfach liegen geblieben, und ich habe einige Fragen, die ich gern … «
»Soll er die Nummer anrufen, die ich hier im Display habe?«, fragte Marcus.
»Äh … ja, das wäre gut. Er soll nach Kommissar Pettersen fragen. Ruft er heute Abend noch an?«
»Das kann ich mir kaum vorstellen«, sagte Marcus. »Wir haben Pläne für den Abend. Aber wenn es wichtig ist, kann ich natürlich dafür sorgen, dass er sich meldet. In einer halben Stunde oder so.«
»Jaaa … das wäre bestimmt gut. Wir hatten gestern Abend wieder so ein Vorkommnis, und es wäre …«
»Gut. Ich richte es aus.«
Ohne sich zu verabschieden, brach er das Gespräch ab und legte das Telefon auf den Couchtisch. Es war zu dunkel im Wohnzimmer. Langsam ging er von einer Lichtquelle zur anderen, bis das Zimmer taghell erleuchtet war.
Rolf hatte ihm von den Reifenspuren beim Tor erzählt. Marcus hatte zuerst darüber gestaunt, sich fast darüber geärgert, dass Rolf sich dermaßen in belanglose Hinweise darauf verbiss, dass jemand auf dem kleinen Platz oben bei der Straße gehalten hatte. Der Platz bildete eine natürliche Ausweichstelle bei Gegenverkehr. Seit der Schneefall eingesetzt hatte, gab es dort dauernd Spuren. Aber er musste schließlich zugeben, dass es schon seltsam war, dass jemand so lange dort hielt, wie die unterschiedliche Tiefe der Spuren und die Kippen annehmen ließen. Als Rolf hartnäckig behauptete, derselbe Wagen habe oben an der Straße gestanden, während er die Spuren am Tor untersucht habe, und sei verschwunden, sowie Rolf Interesse daran gezeigt hatte, konnte Marcus nichts erwidern.
Rolfs Gefühl, dass jemand sie überwachte, stimmte nur zu gut mit seiner eigenen wachsenden Unruhe überein. Er ertappte sich immer häufiger dabei, dass er sich nach etwas umsah, ohne zu wissen, was er erwartete. Oder vielleicht sah er sich eher nach jemandem um. Bisher hatte er nichts Konkretes benennen können, aber das Gefühl, einen lebenden Schatten zu haben, war immer stärker geworden. Erst nach Neujahr war ihm klar geworden, dass die panische Angst, die ihn kurz vor Weihnachten fast umgeworfen hätte, nachdem sie ihn mehrere Jahre verschont hatte, nicht nur den Gewissensqualen entsprang, mit denen er kämpfte.
Jemand schien ihn im Auge zu behalten.
Und vermutlich hatte das nichts mit Einbrechern und Diebesbanden zu tun.
»Nein«, sagte er laut und setzte sich in den Sessel.
Es musste Einbildung sein.
Es hatte Einbildung zu sein.
Er war zu schreckhaft, und Rolf konnte durchaus ein verliebtes junges Paar gesehen haben, das angehalten hatte, um zu knutschen. Eine Knutsch- und Zigarettenpause. Oder vielleicht war es ein verantwortungsbewusster Autofahrer gewesen, der angehalten hatte, um ein Telefongespräch zu führen.
Es klingelte.
Der Babysitter, dachte er und schloss die Augen.
Es war zehn Uhr, und eigentlich war er zu erschöpft, um auszugehen.
In drei Monaten und fünf Tagen war es zehn Jahre her, dass sein Vater gestorben war.
Marcus Koll öffnete die Augen, erhob sich und zog an seinen Ohrläppchen, um wach zu werden. Die Türklingel ertönte ein weiteres Mal. Als er durch das Wohnzimmer ging, beschloss er, dass der 15. April der Tag sein sollte, an dem alle Sorgen ein Ende hätten. Obwohl der Tag jetzt seine ursprüngliche Bedeutung verloren hatte, würde er ihn doch als Meilenstein in seinem Leben sehen. Der 15. April würde zum Wendepunkt werden, und alles würde so sein wie früher. Er musste nur hinkommen. Das Haus auf dem Hügel sollte wieder zu einer Festung werden, zu einem sicheren Rahmen um die Familie, weit außerhalb des Herrschaftsbereichs seines Vaters.
Es war ein Versprechen, das er vor sich selbst ablegte, und aus irgendeinem Grund fühlte er sich ein wenig besser.
Ehe der Morgen graut
Inger Johanne fühlte sich seltsam zufrieden, als der Wecker am Morgen des 12. Januar bereits um halb sechs klingelte. Zuerst begriff sie nicht, warum sie an diesem Montag so früh geweckt wurde, und blieb in dem behaglichen Niemandsland zwischen Traum und Wirklichkeit
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