Gotteszahl
Straßenbahn. Es herrschte jedenfalls große Aufregung, und der Concierge kann sich einfach nicht mehr genau daran erinnern, wie das mit dem Bezahlen vor sich gegangen ist.«
»Aber wer … Wer in aller Welt könnte denn ein Interesse daran haben, das alles zu tun? Ich kann einfach nicht begreifen … Sie umzubringen, sie zu verstecken, die Rechnung zu bezahlen … das ist so absurd, so … Wer um alles in der Welt kann denn auf so eine Idee kommen!«
»Das versuchen wir herauszufinden«, sagte Kjetil ruhig. »Der Schlüssel liegt in der Frage, warum Marianne umgebracht worden ist. Wenn du irgendetwas weißt, was uns helfen könnte …«
»Natürlich weiß ich nichts«, fiel sie ihm ins Wort. »Natürlich habe ich nicht die geringste Ahnung, warum jemand Marianne hätte umbringen sollen. Wenn, dann müssten das doch ihre Scheißeltern sein.«
Er ließ diese ungerechte Behauptung ohne Kommentar im Raum stehen.
Synnøve zog an ihrem Pullover. Sie nahm das Wasserglas und stellte es zurück, ohne zu trinken. Spielte an ihrem Trauring herum. Fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
Versuchte, die Zeit totzuschlagen.
Darauf würde sie sich in den kommenden Tagen konzentrieren müssen. Die Zeit totzuschlagen. Die Zeit heilte alle Wunden, aber immer, wenn sie einen Blick auf die Uhr warf, war wieder erst eine halbe Minute vergangen.
Und keine Wunde war geheilt.
»Kann ich jetzt gehen?«, murmelte sie.
»Natürlich. Ich fahre dich nach Hause. Wir werden dich noch mit weiteren Fragen quälen müssen, aber …«
»Wer?«
»Wer, was?«
»Wer wird mich quälen?«
»Na ja, die Leiche wurde in Oslo gefunden und das Verbrechen wurde allem Anschein nach dort verübt, deshalb ist es ein Fall für die Osloer Polizei. Wir werden ihr natürlich bei allem helfen, aber …«
»Ich möchte gehen.«
Sie erhob sich. Kjetil Berggren fiel auf, dass ihr Pullover viel zu groß war und dass sie die Schultern hängen ließ. Sie musste in zwei Wochen fünf, sechs Kilo abgenommen haben.
»Du musst essen«, sagte er. »Isst du?«
Ohne zu antworten nahm sie ihre Daunenjacke von der Stuhllehne. »Du musst mich nicht fahren«, sagte sie. »Ich gehe …«
»Aber es dauert nur drei Minuten, bis …«
»Ich gehe«, fiel sie ihm ins Wort.
An der Tür drehte sie sich zu ihm um. »Du hast mir nicht geglaubt«, sagte sie. »Du hast mir nicht geglaubt, als ich gesagt habe, dass Marianne etwas Schreckliches passiert ist.«
Er musterte seine Fingernägel, ohne zu antworten.
»Ich hoffe, das quält dich«, sagte sie.
Er nickte, noch immer ohne aufzuschauen.
Das quält mich nicht im Geringsten, dachte er. Es quält mich überhaupt nicht, da Marianne schon längst tot war, als du zu uns gekommen bist.
Aber er sagte nichts.
An der Effektivität war nichts auszusetzen. Der Zeichner der Polizei hatte nicht nur eine Gesichtsskizze vollendet, es gab auch ein Profil, ein Ganzporträt von vorn, dazu eine Zeichnung von einer Art Abzeichen oder Brosche, die Martin Setre am Revers des Mannes gesehen zu haben glaubte. Silje Sørensen blätterte rasch die Zeichnungen durch, dann legte sie alle vier nebeneinander vor sich auf den Tisch.
Sie war skeptisch, was solche Zeichnungen anging, obwohl sie diese hier selbst bestellt hatte.
Die meisten Menschen waren erbärmlich schlechte Zeugen. Ein und dieselbe Situation oder ein und derselbe Mensch konnten im Nachhinein unglaublich unterschiedlich beschrieben werden, Zeugen konnten über Dinge erzählen, die es nicht gab, über Ereignisse, die niemals stattgefunden hatten. Engagiert und detailliert. Sie logen nicht. Sie erinnerten sich nur nicht gut und füllten die Leerstellen in ihrem Gedächtnis mit eigenen Erfahrungen und mit Phantasie.
Andererseits konnten Phantomzeichnungen auch entscheidend sein. Der Zeichner musste gut sein, der Zeuge besonders aufmerksam. Es gab fortschrittliche Computerprogramme, die die Arbeit erleichtern und in einigen Fällen präzisieren konnten, aber sie selbst zog Zeichnungen vor.
Und Zeichnungen hatte sie bekommen.
Sie vertiefte sich in das Porträt.
Der Mann war weiß und mochte zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahre alt sein. Aus den beigefügten Notizen ergab sich, dass Martin Setre nicht sicher war, ob der Mann sich den Schädel rasiert hatte oder ob er einfach kahlköpfig gewesen war. Jedenfalls hatte er keine Haare. Ein rundes Gesicht. Dunkle Augen, keine Brille. Die Nase war gerade und das Kinn breit, fast eckig. Darunter gab es ein schmales
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