Gottfried Crayon's Skizzenbuch (German Edition)
Hier legt die göttliche Leidenschaft der Seele ihr Uebergewicht über die instinctmäßige Hinneigung einer bloß thierischen Anhänglichkeit an den Tag. Die letztere muß durch die Gegenwart ihres Gegenstandes beständig aufgefrischt und lebendig erhalten werden; aber die Liebe, welche in der Seele ihren Sitz hat, kann sich von langer Erinnerung nähren. Die bloß sinnlichen Neigungen ermatten und sterben mit den Reizen, welche sie erregten, und wenden sich mit schauderndem Ekel von dem furchtbaren Rande des Grabes ab; daraus aber erhebt sich die wahrhaft geistige Liebe, von jedem sinnlichen Gefühl geläutert, und kehrt wie eine heilige Flamme zurück, um das Herz des Ueberlebenden zu erleuchten und zu heiligen.
Der Kummer um die Verstorbenen ist der einzige Kummer, von welchem wir uns zu scheiden weigern. Jede andere Wunde suchen wir zu heilen – jede andere Betrübniß zu vergessen; aber diese Wunde offen zu halten, betrachten wir als unsere Pflicht – diese Betrübniß nähren wir und brüten in der Einsamkeit darüber. Wo ist die Mutter, welche das Kind gern vergessen würde, das wie eine Blüthe aus ihren Armen schied, obgleich jede Erinnerung daran ein Schmerzgefühl ist? Wo ist das Kind, das die zärtlichen Eltern vergessen würde, obgleich die Erinnerung an sie nur seine Klage erweckt? Wer würde, selbst in der Stunde des Todeskampfes, den Freund vergessen, den er betrauert? Wer würde, selbst wenn das Grab sich über der irdischen Hülle Derer schließt, die er am innigsten liebte, wenn er sein Herz gleichsam zerschmettert fühlt durch die Pforten, welche sich schließen, wer würde einen Trost annehmen, der nur durch Vergessen erkauft werden kann? – Nein, die Liebe, welche über das Grab hinauslebt, ist eine der edelsten Eigenschaften der Seele. Wenn sie ihre Schmerzen hat, so hat sie auch ihre Freuden; und wenn der überwältigende Ausbruch des Kummers sich erst zur sanften Thräne der Erinnerung gemäßigt hat, wenn die plötzliche Angst, die krampfhafte Verzweiflung bei den sichtbaren Trümmern alles dessen, was wir am meisten liebten, sich gesänftigt hat zu sinnigem Nachdenken über das, was der Hingeschwundene in den Tagen seiner Lieblichkeit war – wer würde einen solchen Schmerz aus dem Herzen reißen wollen? Obgleich er zuweilen die heitere Stunde der Freude mit einer vorübergehenden Wolke überzieht, oder eine tiefere Trauer über die Stunde der Betrübniß verbreitet; – wer würde ihn, selbst gegen das Lied der Fröhlichkeit oder den Ausbruch der lauten Lust vertauschen? Nein, es tönt eine Stimme aus dem Grabe, welche angenehmer ist als Gesang. Es gibt ein Andenken an die Todten, zu welchem wir selbst von den Reizen der Lebenden uns hinwenden. O, das Grab! – das Grab! – Es deckt jeden Irrthum – verhüllt jeden Fehler – löscht jeden Groll aus! Aus seinem friedlichen Schooße sprossen nur inniges Bedauern und angenehme Erinnerungen. Wer kann selbst auf das Grab eines Feindes niederblicken und nicht eine reuige Bewegung fühlen, daß er je mit der armen Handvoll Erde, die modernd vor ihm liegt, gestritten habe!
Aber das Grab Derer, die wir geliebt haben – welch ein Ort zum Nachdenken! Da rufen wir in langem Rückblick die ganze Geschichte der Tugend und Milde und die tausend Reize zurück, welche beinahe unbeachtet in dem täglichen vertraulichen Beisammensein an uns verschwendet wurden – hier verweilen wir bei der Zärtlichkeit, der feierlichen, ernsten Zärtlichkeit des Augenblicks der Trennungsscene. Das Todtenbett, mit all seinem unterdrückten Kummer – seine geräuschlose Pflege – seine stumme, sorgsame Aufmerksamkeiten! – Die letzten Beweise der scheidenden Liebe! – Der schwache, flüchtige, durchschauernde – ach, wie durchschauernde – Druck der Hand! – Der letzte liebevolle Blick des starren Auges, welcher noch von dem Rande des Daseins her auf uns fällt! Die schwachen, versagenden Laute, welche noch im Tode uns eine Versicherung der Liebe geben wollen!
Ja, geh’ an das Grab der dort eingesenkten Liebe und denke nach! Dort rechne ab mit deinem Gewissen für jede vergangene, unvergoltene Wohlthat – jeden unbeachtet gelassenen Vorzug des dahingeschiedenen Wesens, das nimmer – nimmer – nimmer zurückkehren kann, um durch deine Reue sich versöhnen zu lassen!
Bist du ein Kind und hast je ein Leiden über die Seele, oder eine Furche mehr auf die von Silberhaaren umgebene Stirn eines liebenden Vaters gebracht – bist du ein Gatte und hast je dem
Weitere Kostenlose Bücher