Gourrama: Ein Roman aus der Fremdenlegion
ein Menschenleben auf dem Gewissen«, fuhr der Capitaine fort, »denn wäre ich nicht so hart gewesen, so hätte der Lös nicht daran gedacht, sich umzubringen. Und weil ich auf den Mauriot gehört habe, auf den Generalssohn…« Chabert schwieg und sah die Zweizimmerwohnung in einem stinkenden Haus der Altstadt von Rouen vor sich. Fünf Geschwister, der Vater immer besoffen. Die Mutter verängstigt… Und er? Jetzt war er Capitaine, Vorgesetzter von zwei Leutnants, die nicht wußten, was Armut war, die ihn verachteten, weil er sparen mußte… »Der Seignac, der arme Kerl!« sagte er leise. »Was soll man machen? Ich hab Kopfweh, wahrscheinlich ein Fieberanfall… Weißt du was, Chef, mein Kleiner? Wir schicken den Seignac auf Wache mit ein paar Leuten, die ihn gern haben, dann ist er von heut' abend bis morgen abend von der Sektion fort und ich kann mir die Angelegenheit in Ruhe überlegen. Mit Lartigue? – Lassen wir den Herrn Leutnant. – Lassen wir die beiden Herren Leutnant…« Er stand auf, lehnte sich an die Tischkante, ergriff einen Knopf an Narcisses Uniformrock und begann ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu drehen. »Hab ich nicht stets Milde walten lassen?« fragte er leise und senkte den Blick. »Menschlichkeit? In meiner Kompagnie? Sag selbst! Du kannst es nicht leugnen. Und welchen Dank empfange ich? Meine Sergeanten verachten mich, meine Leutnants wollen mich aus meiner Stelle drängen – Mauriot zum Beispiel – und Lartigue? Lartigue verrät mich dreimal, ehe der Hahn kräht.«
Fast beschämt, einen derartigen Vergleich gewagt zu haben, ließ Chabert seinen Kopf noch tiefer sinken. Gedankenlos riß er den Knopf vollends ab, den er von seinen Fäden gedreht hatte, ließ ihn zu Boden fallen und setzte sich wieder vor seinen Tisch. Er legte das Gesicht in die geöffneten Hände, ihre Flächen glitten an seinen Wangen hinauf, bis die Augengruben sie aufhielten. Und so, die geschlossenen Lider gegen die Handballen gedrückt, blieb der Capitaine lange sitzen. Er versuchte zu denken – aber dies war unmöglich. Der Raum war erfüllt von Fliegengesumm, und dieses dröhnte in seinem Kopf, zuerst leise, wie die Bässe einer Orgel, dann lauter, immer lauter, schmetternd endlich, wie die Posaunen des jüngsten Gerichtes. Es kostete ihn Mühe, seine Augen zu befreien – und als er die Lider öffnete, sah er zuerst nur bunte Kreise, die sich rasend schnell drehten. Dann blendete ihn wieder das Blau des Himmels und das spiegelnde Dach. Er wandte sich um. Narcisse Arsène de Pellevoisin, der vielleicht wirklich nur Dupont hieß, hatte lautlos das Büro verlassen…
Friedlich verging der Tag – das heißt, an der Oberfläche blieb alles ruhig. Um zwölf Uhr hielt der Chef den Rapport ab – ganz allein, die Offiziere blieben unsichtbar, und der ehemalige Piemonteser Fuhrmann Cattaneo schlief in seinem Zimmer den Rausch aus, den er sich am Morgen unter Korporal Pierrards sachkundiger Leitung an einem Fäßlein Kartoffelschnaps angetrunken hatte. Narcisse teilte der versammelten Mannschaft mit, der Capitaine habe noch zwei Ruhetage zum Instandsetzen der Ausrüstung bewilligt. Von zwei Uhr an sei Waschen am Oued. Um sechs Uhr werde die Löhnung verteilt. Kampflöhnung. Abtreten.
Nach dem Mittagessen ging der Chef in die Baracke der vierten Sektion, um mit Seignac zu sprechen. Der schwarze Korporal saß hinten in einer Ecke (der Raum war sonst leer), die Zeigefinger in den Ohren und über ein Buch gebeugt, so vertieft, daß ihn Narcisse an der Schulter rütteln mußte. Seignac stand auf, ohne übertriebene Eile, sammelte die Hacken und ließ die Arme zwanglos zu beiden Seiten der sehr schmalen Hüften bammeln. Mit leicht vorgebeugtem Kopf hörte er sich die Mitteilung an: Er habe heute abend das Kommando der Wache zu übernehmen; auch der Aufforderung, künftighin ein wenig Nachsicht walten zu lassen und seine Untergebenen nicht unnütz zu reizen, lauschte er mit wohlwollender Aufmerksamkeit. Ob er seinen Rapport nicht lieber zurückziehen wolle, wurde er gefragt. Der Capitaine wünsche es sehr – die Mannschaft sei aufgeregt. »Gern«, sagte Seignac und blieb ernst, »wenn es der Capitaine wünscht…« – »Was studieren Sie so eifrig?« erkundigte sich Narcisse. Schweigend schlug Seignac die Titelseite des Buches auf. Eine englische Grammatik… »Korporal Smith ist so freundlich, mir Stunden zu geben und mich zu korrigieren.«
Der Chef bewunderte den Schwarzen. »Gute Rasse!« sagte er
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