Goya oder der arge Weg der Erkenntnis - Roman
lange Zeit, vielleicht für immer. »Wenigstens den Freunden mußt du sie zeigen«, bat er, »Quintana, Miguel. Sei nicht so hochmütig zugesperrt, Francho! Du zwingst einen ja geradezu, dich für stumpf zu halten.«
Goya machte ein unwirsches Gesicht, schimpfte, hatte Bedenken. Doch in seinem Herzen verlangte es ihn, die Freunde sein Werk sehen zu lassen.
Er lud Miguel und Quintana in die Ermita. Und forderte auch seinen Sohn Javier auf zu kommen.
Es war das erste Mal, daß mehr als zwei Menschen zusammen in der Ermita waren, es schien Goya beinahe eine Entweihung. Die Freunde saßen verlegen herum, alle, mit Ausnahme Javiers, gaben sich ungeschickt, sonderbar gespannt. Goya hatte Wein bringen lassen, belegte Brote, Käse; er forderte auf zuzulangen. Er selber war barsch, wortkarg.
Endlich, umständlich, betont schwerfällig, holte er die Blätter aus der Truhe.
Einer reichte sie dem andern. Und plötzlich war die Ermita voll von dem Getümmel dieser überwahren Menschen und Ungeheuer, dieser Halbtiere und Halbteufel. Die Freunde schauten, und sie sahen, daß diese Gestalten trotz ihrer Masken, durch ihre Masken, nacktere Gesichter hatten als Menschen von Fleisch und Blut. Es waren Menschen, die sie kannten, doch grausam ihres Scheines entkleidet und versehen mit einem andern, viel bösartigeren Schein. Und die lächerlichen und entsetzlichen Dämonen dieser Blätter waren die fratzenhaften Ungeheuer, die, schwer greifbar, sie selber bedrohten, die in ihnen selber staken, kläglich, unwissend und voll von bedenklichem Wissen, gemein, tückisch, fromm und geil, lustig, unschuldig und verrucht.
Keiner sprach. Schließlich sagte Goya: »Trinkt doch! Trinkt und eßt! Schenk ein, Javier!« Und da sie noch immer schwiegen, sagte er: »Ich heiße diese Blätter Caprichos, Einfälle, Ideen, Phantasiestücke.« Sie schwiegen weiter. Nur der junge Javier sagte: »Ich verstehe.«
Endlich raffte Quintana sich auf. »Caprichos!« rief er. »Sie machen die Welt und heißen sie ›Caprichos‹!« Goya schob die Unterlippe vor, verzog die Mundwinkel zu einem winzigen Lächeln. Doch Quintanas Begeisterung war nicht mehr zu halten. »Sie haben mich umgeworfen, Goya!« rief er. »Wie läppisch und stümperhaft komme ich mir vor mit meinen armseligen Versen. Vor diesen Blättern bin ich der kleine Junge, der zum ersten Mal in die Schule geht und dem der Kopf wirbelt vor den vielen Buchstaben auf der Tafel.«
Miguel sagte: »Es ist nicht angenehm für den Kunstforscher, wenn etwas Neues kommt und seine ganze Theorie umstürzt. Ich muß umlernen, Francisco. Trotzdem: ich gratuliere dir.« Er räusperte sich. »Ich hoffe«, fuhr er fort, »du wirst es mir nicht übelnehmen, wenn ich auf einigen Blättern Einflüsse älterer Meister entdecke, Einflüsse zum Beispiel gewisser Bilder des Bosch im Escorial, Einflüsse gewisser Schnitzereien des Gestühles in den Kathedralen von Avila und Toledo und natürlich Einflüsse der Schnitzereien der Pilar in Saragossa.«Javier meinte: »Auch der größte Künstler steht auf den Schultern eines andern.« Seine Naseweisheit machte die Freunde verlegen; Goya indes schaute den siebenklugen Sohn nachsichtig an, mit zustimmendem Lächeln.
Miguel grübelte: »Der Sinn der meisten Blätter scheint klar. Aber einiges, verzeih, Francisco, verstehe ich durchaus nicht.« – »Das tut mir leid«, antwortete Goya. »Einiges verstehe ich nämlich selber nicht, und ich hatte gehofft, du könntest mir’s erklären.« – »So hab ich mir’s auch gedacht«, stimmte erfreut und vorwitzig Javier zu. »Man versteht nichts und versteht alles.«
Hier schüttete Agustín sein Weinglas um. Der Wein floß über den Tisch und befleckte zwei der Zeichnungen. Die andern schauten drein, als hätte Agustín ein Sakrileg begangen.
Quintana wandte sich an Miguel, etwas gereizt. »Wenn Ihnen das eine oder andere Blatt unverständlich blieb«, sagte er, »so werden Sie doch zugeben: der Sinn des Ganzen ist jedermann verständlich. Idioma Universal! Sie werden es erleben, Don Miguel: das Volk wird diese Zeichnungen verstehen.« – »Sie täuschen sich«, antwortete Miguel. »Das Volk wird diese Blätter bestimmt nicht verstehen. Nicht einmal die Masse der Gebildeten wird sie verstehen. Es ist nur schade, daß Ihre These nicht zu Beweis gestellt werden kann.« – »Wieso nicht?« fragte streitbar Quintana. »Befürworten Sie etwa, daß dieses Wunderwerk hier eingesperrt bleibt, in der Ermita an der Calle de San
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