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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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hatte nicht ganz Unrecht. Wenn ich ihm sagte, dass Gil Perez bis vor kurzem am Leben gewesen war, konnte er die Wiederaufnahme seines Verfahrens damit nicht vorantreiben – weil er dafür gar nicht verurteilt worden war. Trotzdem würden Zweifel aufkommen. Die Verurteilung eines Serienmörders ist ein bisschen wie ein Kartenhaus: Wenn jetzt bekannt wurde, dass ein Opfer gar nicht ermordet wurde – wenigstens nicht damals und nicht vom verurteilten Serienmörder  –, konnte so ein Kartenhaus leicht in sich zusammenbrechen.
    Ich beschloss, ihm erst einmal nichts zu sagen. Bis wir Gil Perez offiziell identifiziert hatten, gab es dafür sowieso keinen Grund. Ich sah ihn an. War er ein Irrer? Ich nahm es an. Aber woher konnte ich das mit Sicherheit wissen? Heute hatte ich jedenfalls alles erfahren, was ich erfahren konnte. Also stand ich auf.
    »Wiedersehen, Wayne.«
    »Wiedersehen, Cope.«
    Ich ging zur Tür.
    »Cope.«
    Ich drehte mich um.
    »Du weißt, dass ich sie nicht umgebracht habe, oder?«

    Ich antwortete nicht.
    »Und wenn ich sie nicht umgebracht habe«, fuhr er fort, »musst du über alles nachdenken, was in jener Nacht passiert ist – nicht nur über Margot, Doug, Gil und Camille. Sondern auch über das, was mit mir passiert ist. Und mit dir.«

27
    »Ira, guck mich doch mal an.«
    Lucy hatte gewartet, bis ihr Vater relativ klar bei Verstand zu sein schien. Sie saß ihm gegenüber in seinem Zimmer. Ira hatte heute seine alten Schallplatten rausgeholt. Auf dem Cover von Sweet Baby Jane war der langhaarige James Taylor zu sehen, auf einem anderen überquerten die Beatles die Abbey Road (wobei Paul barfuß und damit »tot« war). Marvin Gaye trug auf What’s Going On einen Schal, und Jim Morrison ließ auf dem Cover der ersten Platte von den Doors sexy den Kopf hängen.
    »Ira?«
    Er betrachtete lächelnd ein altes Foto aus dem Ferienlager. Der gelbe VW-Käfer war von der Gruppe der ältesten Mädchen geschmückt worden. Sie hatten ihn überall mit Blumen und Peace-Zeichen verziert. Ira stand mit verschränkten Armen in der Mitte. Die Mädchen standen ums Auto herum. Alle trugen Shorts und T-Shirts und lächelten mit braungebrannten Gesichtern. Lucy erinnerte sich noch an den Tag. Es war ein schöner Tag gewesen, einer von denen, die man in eine Schachtel steckte und irgendwo ganz unten in eine Schublade legte, um ihn irgendwann wieder hervorzuholen, wenn es einem mal besonders schlecht ging.
    »Ira?«
    Er sah sie an. »Ich hör dir zu.«
    Barry McGuires klassische Antikriegs-Hymne aus dem Jahr
1965 Eve of Destruction lief. Trotz des beklemmenden Texts beruhigte das Stück Lucy doch immer. Es malte ein extrem düsteres Bild der Welt. McGuire sang, dass die Welt explodiert, über Leichen im Jordan, über die Angst, über den Atomkrieg, über Hass in Rotchina und Selma, Alabama (ein etwas erzwungener Reim, aber er funktionierte), über die Heuchelei und den Hass auf der Welt – und im Refrain fragte er fast spöttisch, wie der Zuhörer so naiv sein könne zu glauben, dass wir nicht am Rande des Abgrunds stünden.
    Und warum beruhigte der Song sie?
    Weil er zutraf. Die Welt war dieser furchtbare und grausame Ort. Damals stand der Planet kurz vor dem Abgrund. Aber er hatte überlebt – manche Menschen würden sogar sagen, er sei gediehen. Auch heutzutage schien die Welt ziemlich schrecklich zu sein. Unvorstellbar, dass wir das überstehen.
    Aber McGuires Welt war ebenso furchteinflößend gewesen. Vielleicht war sie sogar noch furchteinflößender. Und wenn man noch zwanzig Jahre weiter zurückblickte, stieß man auf den Zweiten Weltkrieg und die Nazis. Dagegen waren die Sechziger das reinste Disneyland. Aber sogar die Vierziger hatten wir überstanden.
    Offenbar standen wir immer kurz vor dem Abgrund. Aber irgendwie konnten wir den nächsten Schritt dann doch noch vermeiden.
    Vielleicht gelang es uns ja auch, die Abgründe in uns selbst zu umgehen.
    Sie schüttelte den Kopf. Wie naiv. Wie einfältig. Eigentlich müsste sie es besser wissen.
    Iras Bart war frisch geschnitten. Seine Haare waren immer noch widerspenstig. Das Grau bekam schon fast einen Blaustich. Seine Hände zitterten, und Lucy überlegte, ob zu der Demenz womöglich noch ein Parkinson-Syndrom kam. Sie wusste, dass Iras letzte Jahre unangenehm werden würden. Andererseits
waren die vergangenen zwanzig Jahre auch kein Zuckerschlecken gewesen.
    »Was ist, mein Schatz?«
    Man merkte ihm seine Besorgnis deutlich an. Vielleicht hatte Iras

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