Grab im Wald
jetzt einen Bürstenschnitt statt der früheren »Ich geh mit Mami segeln«-Locken, der ihm aber gut stand. Ich wusste, dass er seine Zelle am Tag nur eine Stunde lang verlassen durfte. Die verbrachte er dann allerdings offensichtlich in der Sonne, denn diese typische Gefängnisblässe war bei ihm nicht zu sehen.
Wayne Steubens begrüßte mich mit einem gewinnenden, fast perfekten Lächeln. »Bist du hier, weil du mich zum Jubiläumstreffen des Ferienlagers einladen willst?«
»Wir haben dafür den Rainbow-Room in Manhattan gemietet. Mann, ich hoffe nur, dass du Zeit hast.«
Er johlte vor Lachen, als hätte ich gerade den Witz des Jahres gerissen. Eigentlich war es nicht besonders komisch, zeigte mir aber, dass diese Befragung ein ziemlich heißes Tänzchen werden würde. Er war von den besten FBI-Agenten des Landes vernommen worden. Er war von Psychiatern getestet worden, die jeden erdenklichen Psychopathentrick kannten. Eine formale Herangehensweise brachte mich nicht weiter. Wir kannten uns von früher. Wir waren sogar so etwas wie Freunde gewesen. Diese Trümpfe musste ich ausspielen.
Sein Lachen legte sich, und dann verschwand auch das Lächeln aus seinem Gesicht. »Nennt man dich immer noch Cope?«
»Ja.«
»Und wie geht’s dir, Cope?«
»Groovy«, sagte ich.
»Groovy«, wiederholte Wayne. »Du klingst wie Onkel Ira.«
Im Ferienlager hatten wir die Älteren Onkel und Tante genannt.
»Ira ist schon ein verrückter Typ gewesen, was, Cope?«
»Er war ziemlich durch den Wind.«
»Das kann man wohl sagen.« Wayne blickte zur Seite. Ich versuchte, den Blick aus seinen himmelblauen Augen einzufangen, aber sie schossen unruhig hin und her. Er schien etwas manisch
zu sein. Ich fragte mich, ob er Beruhigungsmittel bekam – was eigentlich anzunehmen war –, und dann fragte ich mich, warum ich das nicht überprüft hatte.
»Und«, sagte Wayne, »verrätst du mir, was du wirklich von mir willst?« Und dann, bevor ich antworten konnte, hob er eine Hand. »Nein, warte, sag’s mir nicht. Noch nicht.«
Ich hatte etwas anderes erwartet. Was genau, wusste ich nicht. Wahrscheinlich, dass er noch viel verrückter war oder leichter zu durchschauende Spielchen mit mir spielte. Dabei dachte ich allerdings nicht an den klassischen Irren, also das Bild, das einem in den Sinn kommt, wenn man an einen Serienmörder denkt: durchdringender Blick, malerisches Brüten und intensives Grübeln, leichtes Schmatzen, Händeringen, also lauter Anzeichen, dass die Verrücktheit direkt unter der Oberfläche lag und jederzeit herausbrechen könnte. Wayne zeigte keins dieser Zeichen. Und die durchschaubaren Spielchen sind die der Soziopathen, die uns tagtäglich über den Weg laufen, die glatten Typen, von denen man weiß, dass sie oft lügen und einem schreckliche Dinge antun können. Auch solche Vibrationen empfing ich nicht.
Ich erlebte etwas weitaus Furchteinflößenderes. Es fühlte sich ganz normal an, hier zu sitzen und mich mit diesem Mann zu unterhalten – mit dem Mann, der höchstwahrscheinlich meine Schwester und sieben andere Menschen umgebracht hatte. Es war sogar fast angenehm.
»Es ist jetzt zwanzig Jahre her, Wayne. Ich muss wissen, was damals im Wald passiert ist.«
»Warum?«
»Weil meine Schwester davon betroffen war.«
»Nein, Cope, das meine ich nicht.« Er beugte sich leicht vor. »Warum jetzt? Wie du gerade erwähnt hast, ist es zwanzig Jahre her. Also warum, alter Freund, willst du es ausgerechnet jetzt wissen?«
»Das weiß ich selbst nicht so genau«, sagte ich.
Das hektische Flackern in seinem Blick ließ nach, und er sah mir in die Augen. Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Rollentausch. Der Psychotiker versucht zu erkennen, ob ich lüge.
»Das Timing«, sagte er, »finde ich sehr interessant.«
»Wieso?«
»Weil du nicht der einzige Überraschungsgast bist, den ich in letzter Zeit hatte.«
Ich nickte langsam und versuchte, nicht zu begierig zu wirken. »Wer war noch da?«
»Warum sollte ich dir das sagen?«
»Warum nicht?«
Wayne Steubens lehnte sich zurück. »Du bist immer noch ein gutaussehender Mann, Cope.«
»Du auch«, sagte ich. »Aber ein Date kommt trotzdem nicht in Frage.«
»Eigentlich müsste ich sauer auf dich sein.«
»Ach?«
»Du hast mir damals den Sommer verdorben.«
Abschottung. Ich habe schon darüber gesprochen. Ich weiß,
dass man es mir nicht anmerkte, aber es kam mir vor, als wäre er mit einer Rasierklinge durch meine Eingeweide gefahren. Ich plauderte mit
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