Grab im Wald
Vermisstenmeldungen aus dieser Zeit noch einmal genauer angesehen, um festzustellen, ob noch andere Frauen verschwunden waren, auf die diese Beschreibung passte. Sie hatten nichts gefunden – bislang war meine Schwester der einzige Treffer in der Computerdatei.
Die Gerichtsmedizinerin hatte die Todesursache noch nicht
gefunden. Bei einem so alten Skelett war das nicht ungewöhnlich. Wenn er ihr die Kehle durchschnitten oder sie lebendig begraben hatte, würde man das wohl nie feststellen können. Die Knochen wären unversehrt. Knorpel und innere Organe wären längst die Beute irgendwelcher parasitärer Lebewesen geworden, die sich vor langer Zeit an ihnen gelabt hatten.
Ich übersprang ein paar Zeilen und sah mir das bisher wichtigste Ergebnis an. Die Vertiefungen am Schambein.
Das Opfer hatte ein Kind geboren.
Wieder dachte ich darüber nach, fragte mich, ob das möglich gewesen sein könnte. Unter normalen Umständen hätte es mir Hoffnung gemacht, dass es sich bei der Frau, die sie da im Wald ausgegraben hatten, nicht um meine Schwester handelte. Aber selbst wenn sie es nicht war, welchen Schluss sollte ich daraus ziehen? Dass um die gleiche Zeit herum ein anderes Mädchen – ein Mädchen, das nie vermisst gemeldet worden war – im gleichen Gebiet in der Nähe des Ferienlagers ermordet und begraben worden war?
Das ergab einfach keinen Sinn.
Irgendetwas hatte ich übersehen. Wahrscheinlich eine ganze Menge.
Ich zog mein Handy aus der Tasche. Es hatte im Krankenhaus keinen Empfang, aber ich suchte Yorks Nummer aus der Anrufliste. Dann nahm ich den Hörer vom Zimmertelefon und rief ihn an.
»Gibt’s was Neues?«, fragte ich.
»Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«
Ich wusste es nicht. Ich sah auf die Uhr. »Es ist fünf nach zehn«, sagte ich. »Gibt’s was Neues?«
Er seufzte. »Die ballistischen Tests haben bestätigt, was wir sowieso schon wussten. Die Pistole, mit der Silverstein auf Sie geschossen hat, ist dieselbe, mit der auch Gil Perez getötet wurde. Und bis wir das Ergebnis des DNA-Tests haben, dauert es zwar
noch ein paar Wochen, aber das Blut auf dem Käfer-Rücksitz hat die gleiche Blutgruppe wie Perez. Im Tennis würde ich sagen, Spiel, Satz und Sieg.«
»Was hat Lucy gesagt?«
»Dillon meinte, sie wäre keine große Hilfe gewesen. Sie stand unter Schock. Ansonsten hat sie nur gesagt, dass es ihrem Vater in letzter Zeit ziemlich schlecht gegangen sei und er sich vermutlich durch irgendwas bedroht gefühlt hat.«
»Hat Dillon ihr das abgenommen?«
»Klar, wieso nicht? Unser Fall ist damit sowieso abgeschlossen. Wie geht’s Ihnen?«
»Prima.«
»Auf Dillon ist mal geschossen worden.«
»Nur einmal?«
»Der war gut. Jedenfalls zeigt er jeder Frau, die er kennenlernt, die Narbe. Törnt sie echt an, sagt er. Denken Sie dran.«
»Aufreißertipps von Dillon. Na besten Dank.«
»Raten Sie mal, welchen Spruch er bringt, wenn er ihnen die Narbe zeigt?«
»Hey, Baby, willst du auch mal meine Kanone sehen?«
»Mist, woher wussten Sie das?«
»Wo ist Lucy hingegangen, nachdem Dillon sie befragt hat?«
»Wir haben Sie zum Campus in ihre Wohnung gefahren.«
»Okay, danke.«
Ich legte auf und wählte Lucys Nummer. Ihr Anrufbeantworter sprang an. Ich hinterließ eine Nachricht. Dann rief ich Muse auf dem Handy an.
»Wo sind Sie?«, fragte ich.
»Auf dem Nachhauseweg, warum?«
»Ich dachte, Sie wären vielleicht auf dem Weg zur Reston University, um Lucy zu befragen.«
»Da war ich schon.«
»Und?«
»Sie hat die Tür nicht aufgemacht. Aber in der Wohnung brennt Licht. Sie ist zu Hause.«
»Ist mit ihr alles in Ordnung?«
»Woher soll ich das wissen?«
Das gefiel mir nicht. Ihr Vater war tot, und sie saß allein in ihrer Wohnung. »Wie weit sind Sie vom Krankenhaus weg?«
»Eine Viertelstunde.«
»Wie wär’s, wenn Sie mich abholen kommen?«
»Dürfen Sie das Krankenhaus verlassen?«
»Wer sollte mir das verbieten? Außerdem ist es ja nicht für lange.«
»Bitten Sie mich als mein Chef, ob ich Sie zu Ihrer Freundin fahren kann?«
»Nein. Ich, der Bezirksstaatsanwalt, fordere Sie auf, mich zu einer wichtigen Zeugin in einem aktuellen Mordfall zu fahren.«
»Ist mir auch scheißegal«, sagte Muse. »Ich bin schon so gut wie bei Ihnen.«
Niemand versuchte mich aufzuhalten, als ich das Krankenhaus verließ.
Ich fühlte mich nicht gut, hatte mich aber auch schon viel schlechter gefühlt. Ich machte mir Sorgen um Lucy, und langsam wuchs in mir die Gewissheit, dass
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