Grab im Wald
Ich schüttelte den Kopf, aber Muse nickte einfach weiter.
»In der Nähe der beiden anderen Gräber haben sie die Überreste einer Leiche gefunden.«
Ich schüttelte heftiger den Kopf. Nicht jetzt. Nicht nach all dem, was bisher passiert war.
»Eine Frauenleiche, eins siebzig, lag so zwischen fünfzehn und dreißig Jahren in der Erde.«
Ich schüttelte weiter den Kopf. Muse brach ab und wartete, bis ich mich wieder etwas gefangen hatte. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, wollte nicht wahrhaben, was Muse mir gerade erzählt hatte. Ich wollte diesen Gedanken ausblenden, dachte noch einmal zurück. Und dann fiel mir etwas ein.
»Moment. Sie haben gefragt, ob Camille schwanger gewesen ist. Wollen Sie sagen, dass die Leiche … dass man erkennen konnte, dass sie schwanger war?«
»Nicht nur schwanger«, sagte Muse. »Sie hatte entbunden.«
Ich saß nur da. Ich versuchte, das Ganze zu verarbeiten. Es gelang mir nicht. Eine Schwangerschaft war eine Sache. Die wäre vielleicht noch möglich gewesen. Sie hätte eine Abtreibung haben können oder so etwas, ich konnte es nicht sagen. Aber dass sie das Kind ausgetragen und ein Baby zur Welt gebracht haben sollte – und nach all diesen neuen Entwicklungen tot war ….
»Stellen Sie fest, was passiert ist, Muse.«
»Das werde ich.«
»Und wenn da irgendwo noch ein Baby ist …«
»Dann finde ich das auch.«
39
»Es gibt was Neues.«
Alexej Kokorow war immer noch ein beeindruckender, wenn auch hässlicher Zeitgenosse. Ende der Achtziger, direkt bevor die Mauer gefallen war und ihr Leben sich grundlegend verändert hatte, war er Soschs Untergebener bei InTourist gewesen. Ein Witz, wenn man jetzt darüber nachdachte. In der Heimat waren sie Topagenten des KGB gewesen. 1974 waren sie in der SpezNas gewesen – in der Gruppe A, der Alpha-Gruppe. Vorgeblich eine Gruppe für den Antiterror- und Verbrechenseinsatz. An einem kalten Weihnachtsmorgen hatte ihre Gruppe in Kabul den Darul-Aman-Palast gestürmt. Kurz darauf hatte Sosch den Job bei InTourist bekommen und war nach New York gezogen. Kokorow, ein Mann, den Sosch nie sonderlich geschätzt hatte, war ihm gefolgt. Beide hatten ihre Familien zurückgelassen. So war das halt. New York war verführerisch. Nur die treuesten Sowjets mit den höchsten Verdiensten wurden dahin versetzt. Aber selbst diese verdienstvollen Kämpfer mussten von Kollegen im Auge behalten werden, die keine engen Freunde oder Vertrauten waren. Man musste sie immer wieder daran erinnern, dass in der Heimat noch Menschen waren, die man liebte und denen leicht etwas zustoßen konnte.
»Erzähl«, sagte Sosch.
Kokorow war ein Trinker. Das war er schon immer gewesen, aber in seiner Jugend war es ihm eher entgegengekommen. Er war stark, klug und wenn er betrunken war besonders skrupellos.
Er gehorchte wie ein Hund. Doch jetzt war das Alter dazugekommen. Seine erwachsenen Kinder konnten nichts mit ihm anfangen. Seine Frau hatte ihn schon vor vielen Jahren verlassen. Er war eine jämmerliche Gestalt, aber er war auch ein Teil der Vergangenheit. Sie hatten sich zwar nicht gemocht, aber dennoch bestand eine Verbindung zwischen ihnen. Im Lauf der Zeit war Kokorow Sosch gegenüber loyal geworden. Also hatte Sosch ihn auf seiner Gehaltsliste behalten.
»Sie haben da im Wald eine Leiche gefunden«, sagte Kokorow.
Sosch schloss die Augen. Damit hatte er nicht gerechnet, und dennoch überraschte es ihn nicht. Pavel Copeland wollte die Vergangenheit ans Licht bringen. Sosch hatte gehofft, ihn davon abhalten zu können. Es gab Dinge, die ein Mensch besser nicht erfuhr. Gavrel und Aline, sein Bruder und seine Schwester, waren in einem Massengrab verscharrt worden. Ohne Grabstein und absolut würdelos. Das hatte Sosch nie belastet. Asche zu Asche und so weiter. Aber manchmal dachte er doch noch daran. Manchmal fragte er sich, ob Gavrel eines Tages aus dem Grab steigen und anklagend mit dem Finger auf seinen kleinen Bruder zeigen würde, der ihm vor über sechzig Jahren einen Extrabissen Brot gestohlen hatte. Sosch wusste, dass es nur ein Bissen gewesen war. Der hätte nichts geändert. Und doch dachte Sosch jeden Morgen an seine Missetat, jeden Morgen dachte er an diesen gestohlenen Bissen Brot.
War das hier auch so? Sannen die Toten auf Rache?
»Wie hast du das erfahren?«, fragte Sosch.
»Seit Pavel hier war, habe ich mir die Lokalnachrichten genau angesehen«, sagte Kokorow. »Im Internet. Da habe ich es gesehen.«
Sosch lächelte. Zwei alte
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