Grab im Wald
lächerlich oder vollkommen ausgeschlossen war, aber eins störte mich außerordentlich. Ich wusste nicht, was hier los war – und Muse wusste mehr, als sie sagte. Sie hatte diese Fragen nicht einfach aus einer Laune heraus gestellt. Auch wenn ein guter Ermittler im Zweifel auch mal einer verrückt klingenden Idee nachgehen musste. Einfach nur, um zu gucken, was passierte. Ob sich womöglich herausstellte, dass diese Idee doch nicht so verrückt war, wie sie klang.
Die Schwester war fertig. Ich griff zum Telefon und rief zu Hause an, weil ich wissen wollte, wie es Cara ging. Ich war überrascht, als Greta sich mit einem freundlichen »Hallo« meldete.
»Hi«, sagte ich.
Die Freundlichkeit war sofort verflogen. »Wie ich gehört habe, wirst du wieder.«
»Das haben sie mir auch gesagt.«
»Ich bin jetzt hier bei Cara«, sagte Greta streng. »Sie kann heute Abend bei mir schlafen, wenn du nichts dagegen hast.«
»Das wäre toll, danke.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Paul?«
Normalerweise nannte sie mich Cope. Das gefiel mir ganz und gar nicht. »Ja?«
»Cara ist mir wichtig. Sie ist meine Nichte. Sie ist die Tochter meiner Schwester.«
»Das verstehe ich.«
»Du hingegen bedeutest mir nichts.«
Sie legte auf.
Ich lehnte mich zurück, wartete darauf, dass Muse zurückkam, und versuchte, mit meinem schmerzenden Kopf noch einmal über alles nachzudenken. Ich ging es Schritt für Schritt durch.
Glenda Perez hatte gesagt, meine Schwester hätte den Wald aus eigener Kraft verlassen.
Ira Silverstein hatte gesagt, sie wäre tot.
Wem sollte ich glauben?
Glenda Perez schien ziemlich normal zu sein. Ira Silverstein war ein Verrückter gewesen.
Der Punkt ging an Glenda Perez.
Außerdem hatte Ira gesagt, das Ganze müsste begraben bleiben. Er hatte Gil Perez umgebracht – und wollte mich umbringen –, damit wir das nicht weiteruntersuchten. Er konnte sich denken, dass ich so lange weitermachen würde, wie ich die Hoffnung hatte, dass meine Schwester noch am Leben war. Ich würde weitere Nachforschungen anstellen und mich über alles hinwegsetzen, was sich mir in den Weg stellte, ohne auf mögliche Folgen Rücksicht zu nehmen. Und das hatte Ira ganz offensichtlich nicht gewollt.
Also hatte er ein Motiv zu lügen – zu behaupten, dass sie tot war.
Andererseits wollte auch Glenda Perez, dass ich die Nachforschungen einstellte. Solange ich den Fall am Laufen hielt, war ihre Familie in akuter Gefahr. Der Betrug und all die anderen Verbrechen und Vergehen, die sie aufgeführt hatte, könnten ans Licht der Öffentlichkeit geraten. Also musste auch ihr klar gewesen sein, dass die beste Möglichkeit, mich zum Rückzug zu bewegen, darin bestanden hätte, mich zu überzeugen, dass sich in den letzten zwanzig Jahren nichts geändert und Wayne Steubens tatsächlich meine Schwester umgebracht hatte. Es hätte in ihrem Interesse gelegen, mir zu sagen, dass meine Schwester tot war.
Aber das hatte sie nicht getan.
Noch ein Punkt an Glenda Perez.
Ich spürte, wie die Hoffnung – schon wieder dieses Wort – in mir wuchs.
Loren Muse kam zurück. Sie schloss die Tür hinter sich. »Ich habe gerade mit Sheriff Lowell telefoniert«, sagte sie.
»Aha?«
»Wie ich schon sagte, ist das sein Fall. Ohne seine Erlaubnis hätte ich über ein paar Dinge nicht mit Ihnen reden dürfen.«
»Geht es dabei um diese Schwangerschaft?«
Muse setzte sich so behutsam, als hätte sie Angst, der Stuhl könnte unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Sie legte die Hände in den Schoß. Das war seltsam. Normalerweise gestikulierte Muse wild herum wie ein Sizilianer auf Amphetaminen, der beinahe von einem rasenden Auto angefahren worden wäre. So ruhig hatte ich sie noch nie gesehen. Sie sah zu Boden. Ich fühlte ein bisschen mit ihr. Sie versuchte wieder einmal, das Richtige zu tun. Wie immer.
»Muse?«
Sie sah mich an. Ihre Miene gefiel mir nicht.
»Was ist hier los?«
»Sie wissen doch, dass ich Andrew Barrett zum alten Zeltlager raufgeschickt habe?«
»Natürlich«, sagte ich. »Barrett wollte irgendein neues Radargerät ausprobieren, mit dem er den Boden untersuchen kann. Und?«
Muse sah mich an. Mehr tat sie nicht. Sie sah mich an, und ich sah, dass ihre Augen feucht wurden. Dann nickte sie. Es war das traurigste Nicken, das ich je gesehen habe.
Meine Welt platzte mit einem lauten Knall.
Hoffnung. Die Hoffnung hatte sanft mein Herz liebkost. Jetzt fuhr sie ihre Klauen aus und zerfleischte es. Ich bekam keine Luft mehr.
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