Grab im Wald
ein Rockstar – sie meinte, es wäre Eric Clapton gewesen – einmal in einem Interview gesagt hatte, nämlich, dass er kein Fan von, äh, Menschen sei. So ging es ihr auch. So abgeschmackt es auch klingen mochte, aber sie war lieber allein. Sie las viel und guckte sich gern Filme an, ohne dass dauernd jemand einen Kommentar dazu abgab. Mit Männern und ihren Egos, der ewigen Prahlerei und ihren absurden Unsicherheiten kam sie einfach nicht zurecht. Sie wollte keinen Partner fürs Leben.
Allein hier draußen im Wald war sie am glücklichsten.
O’Neill hatte ihre Werkzeugtasche dabei, aber von all den neuen Geräten, deren Anschaffung die Steuerzahler zum Großteil finanziert hatten, fand sie das Einfachste am nützlichsten: das Sieb. Es war fast das gleiche, wie sie es auch in der Küche benutzte. Sie holte es aus der Tasche und fing an, die Erde durchzusieben.
Sie suchte nach Zähnen und kleinen Knöchelchen.
Sie musste sehr sorgfältig arbeiten, ähnlich wie bei der archäologischen Ausgrabung, an der sie nach dem Highschoolabschluss teilgenommen hatte.
Sie war zu einem Praktikum in die Badlands in South Dakota gefahren, in ein Gebiet, das »Big Pig Dig« genannt wurde, weil man dort früher ein Archaeotherium gefunden hatte, ein Tier, das im Prinzip wie ein riesiges prähistorisches Schwein ausgesehen hatte. Sie hatte also mit Fossilien von ausgestorbenen Schweinen und Nashörnern gearbeitet. Es war ein wunderbares Erlebnis gewesen.
An diesem Grab arbeitete sie mit der gleichen Geduld – eine Arbeit, die die meisten Menschen als stumpfsinnig und langweilig empfinden würden. Aber auch dabei war Tara O’Neill glücklich und zufrieden.
Nach einer Stunde fand sie ein kleines Knochenstück.
Ihr Puls erhöhte sich. Eigentlich hatte sie das erwartet. Nach den Röntgenaufnahmen der Verknöcherungen am Brustbein war ihr diese Möglichkeit eingefallen. Aber trotzdem. Das fehlende Stück jetzt in der Hand zu halten…
»Oh, mein …«
Sie hatte laut gesprochen, und ihre Worte hallten durch den stillen Wald. Es war unglaublich, aber sie hielt den Beweis direkt in ihrem Gummihandschuh.
Es war das Zungenbein.
Oder, um genau zu sein, die Hälfte des Zungenbeins. Stark verkalkt und schon ein bisschen brüchig. Sie suchte weiter, siebte so schnell sie konnte. Es dauerte nicht lange. Nach fünf Minuten hatte O’Neill die andere Hälfte gefunden. Sie hielt beide Teile zusammen.
Selbst nach all den Jahren passten die beiden Knochenfragmente noch zusammen wie eine Laubsägearbeit.
Tara O’Neills Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein glückseliges
Lächeln. Einen Moment lang starrte sie ihre eigene Arbeit an und schüttelte ehrfürchtig den Kopf.
Sie zog das Handy aus der Tasche. Kein Empfang. Sie musste rund einen Kilometer zurückgehen, bis sie zwei Balken im Display hatte. Dann wählte sie Sheriff Lowells Nummer. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»Sind Sie das, Doc?«
»Ja.«
»Wo sind Sie?«
»Am Grab«, sagte sie.
»Sie klingen so aufgeregt.«
»Bin ich auch.«
»Warum?«
»Ich hab in der Erde noch was gefunden«, sagte Tara O’Neill.
»Und?«
»Und das wirft sämtliche Vermutungen, die wir bisher über den Fall hatten, über den Haufen.«
Irgendein Piepen im Krankenhaus weckte mich. Ich drehte mich langsam um, blinzelte ein paar Mal und sah, dass Mrs Perez neben mir saß.
Sie hatte den Stuhl direkt neben das Bett gestellt. Die Handtasche lag im Schoß. Ihre Knie berührten sich. Ihr Rücken war kerzengerade. Ich sah ihr in die Augen. Sie hatte geweint.
»Ich habe das von Mr Silverstein gehört«, sagte sie.
Ich wartete.
»Und ich hab gehört, dass sie im Wald Knochen gefunden haben.«
Meine Kehle war trocken. Ich sah nach rechts. Dieser braungelbe Plastikkrug, den es nur in Krankenhäusern gibt und der speziell dafür entworfen zu sein scheint, dem Wasser einen üblen
Beigeschmack zu verleihen, stand neben mir auf dem Nachttisch. Ich wollte danach greifen, aber Mrs Perez war schon aufgesprungen, bevor ich auch nur die Hand heben konnte. Sie goss das Wasser in einen Becher und reichte ihn mir.
»Wollen Sie sitzen?«, fragte Mrs Perez.
»Das wäre wohl besser.«
Sie drückte auf die Fernbedienung und mein Rücken wurde langsam in die Höhe geschoben.
»Ist das okay?«
»Wunderbar«, sagte ich.
Sie setzte sich wieder.
»Sie werden die Sache nicht auf sich beruhen lassen«, sagte sie.
Ich sparte mir die Antwort.
»Sie sagen, dass Mr Silverstein meinen Gil umgebracht
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