Grab im Wald
»Ich weiß.«
Ich habe schon immer gut Dinge ausblenden können. Bis zu einem gewissen Grad können wir das alle, aber ich beherrsche es besonders gut. Ich kann in meiner Welt verschiedene Universen entwerfen. Ich kann mich mit einem Aspekt meines Lebens befassen und alle anderen vollkommen ausblenden. Bei einem Mafia-Film fragen sich viele Menschen, wie der Auftragskiller auf der Straße so gewalttätig und zu Hause so liebevoll sein kann. Ich habe damit kein Problem. Ich kann das auch.
Ich bin nicht etwa stolz darauf. Es ist keine unbedingt erstrebenswerte Eigenschaft. Sie bietet zwar einen gewissen Schutz, aber ich habe auch schon erlebt, was für Ungeheuerlichkeiten damit gerechtfertigt werden.
Also hatte ich die letzte halbe Stunde mehrere unvermeidliche Fragen ignoriert: Wenn Gil Perez die ganze Zeit gelebt hatte, wo war er dann gewesen? Was war in jener Nacht im Wald passiert? Und natürlich die Frage aller Fragen: Wenn Gil Perez die schreckliche Nacht überlebt hatte …
Hatte meine Schwester sie womöglich auch überlebt?
»Cope?«
Es war Muse.
»Was ist los?«
Ich wollte es ihr erzählen. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt. Ich musste meine Gedanken selbst erst mal ein bisschen ordnen. In Erfahrung bringen, was womit zusammenhing. Und zuallererst musste ich mich versichern, dass es wirklich die Leiche von Gil Perez war. Ich stand auf und ging zu ihr hinüber.
»Cal und Jim«, sagte ich. »Wir müssen rausbekommen, worum es dabei geht – und zwar schnell.«
Greta, die Schwester meiner Frau, und ihr Mann Bob leben in einem McMansion, einem neuen, etwas prätentiösen Eigentumshaus auf zu kleinem Grundstück, in einer neu gebauten Sackgasse, die fast genauso aussieht wie jede andere neue Sackgasse in den USA. Die Grundstücke sind zu klein für die elefantösen Backsteinbauten, die sie fast vollständig einnehmen. Die Häuser haben zwar unterschiedliche Formen und Grundrisse, sehen aber trotzdem irgendwie gleich aus. Alles ist übertrieben herausgeputzt, und die künstlich aufgetragene »Patina« soll ein gewisses Alter suggerieren, führt aber dazu, dass die Häuser nur noch steriler wirken.
Ich hatte Greta noch vor meiner späteren Frau kennengelernt. Meine Mutter hatte uns vor meinem zwanzigsten Geburtstag verlassen, aber ich erinnere mich noch an etwas, das sie mir ein paar Monate, bevor Camille in diesen Wald gegangen ist, erzählt hat. Wir gehörten zu den Ärmsten in dem ziemlich durchmischten Ort, in dem wir wohnten. Wir waren aus der damaligen Sowjetunion ausgewandert, als ich vier Jahre alt war. Am Anfang war es noch ganz gut gelaufen – wir waren als Helden in die USA gekommen –, doch das änderte sich schon bald und ziemlich schnell.
Wir wohnten im Obergeschoss eines Dreifamilienhauses in Newark, trotzdem gingen Camille und ich in West Orange auf die Columbia High. Mein Vater Wladimir Kopinski (er hatte den Namen zu Copeland »amerikanisieren« lassen) war früher in Leningrad Arzt gewesen, bekam aber in seiner neuen Heimat keine Zulassung und konnte daher nicht praktizieren. Am Ende hat er sich als Anstreicher verdingt.
Meine Mutter, eine zerbrechliche Schönheit namens Natascha, die einst stolze und gebildete Tochter eines aristokratischen Professors, nahm diverse Putzjobs bei wohlhabenderen Familien in Short Hills und Livingston an, konnte aber keinen davon lange halten.
An jenem Tag war meine Schwester Camille aus der Schule nach Hause gekommen und hatte spöttisch verkündet, dass die Tochter einer der reichsten Familien der Umgebung in mich verknallt sei. Meine Mutter war sofort vollkommen hingerissen.
»Du musst sie einladen«, sagte sie zu mir.
Ich zog eine Grimasse. »Hast du sie schon mal gesehen?«
»Ja, das habe ich.«
»Dann weißt du ja auch«, sagte ich, wie man es von einem Siebzehnjährigen nicht anders erwarten konnte, »dass sie ein echtes Monster ist.«
»Es gibt ein altes, russisches Sprichwort«, erwiderte meine
Mutter und hob den Finger, um ihre Aussage zu betonen. »Eine reiche Frau ist schön, wenn sie auf ihrem Geld steht.«
Das war der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam, als ich Greta begegnete. Ihre Eltern – meine ehemaligen Schwiegereltern, wie ich es nennen würde, die Großeltern meiner Cara sind sie auf jeden Fall noch – waren steinreich. Meine Frau war in Reichtum aufgewachsen. Ihr Erbe lag im Treuhandvermögen für Cara. Ich war der Treuhänder. Jane und ich hatten lange und intensiv darüber diskutiert, in welchem
Weitere Kostenlose Bücher