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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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haben.«
    Lucy schwieg einen Moment lang. Sie drehte sich auf dem Stuhl zur Seite, so dass ich jetzt ihr Profil sah. »Das haben wir doch auch.«
    »Aber nicht in den wichtigen Punkten«, sagte ich.
    »Wir haben uns geliebt«, sagte sie, »als die anderen ermordet wurden.«
    Ich sagte nichts. Wieder blendete ich Teile meines Lebens aus. So überstand ich die Tage. Wenn ich das nicht täte, würde ich mich erinnern, dass ich an jenem Abend Wachdienst gehabt hatte. Dass ich mich nicht mit meiner Freundin in den Wald hätte schleichen dürfen. Dass ich besser auf die anderen hätte aufpassen müssen. Dass ich als verantwortungsbewusster Jugendlicher, dem man so eine Aufgabe übertragen hatte, nicht hätte sagen dürfen, dass ich nachgezählt hatte, ob alle in ihren
Hütten waren, wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Ich hätte darüber am nächsten Morgen nicht lügen dürfen. Dann hätten alle gewusst, dass die Vermissten schon am Abend vorher verschwunden waren, nicht erst am Morgen. Also wurde meiner Schwester vielleicht gerade in dem Moment die Kehle durchgeschnitten, als ich die Inspektion der Hütten abhakte, die ich nie gemacht hatte.
    Lucy sagte: »Wir waren noch Kinder, Cope.«
    Immer noch nichts.
    »Sie haben sich davongeschlichen. Sie hätten sich auch davongeschlichen, wenn wir da gewesen wären.«
    Wahrscheinlich nicht, dachte ich. Wenn ich auf meinem Posten gewesen wäre, hätte ich sie gesehen. Oder mir wären bei meinem abendlichen Rundgang die leeren Betten aufgefallen. Aber ich war nicht auf dem Posten gewesen, und ich hatte auch keinen Rundgang gemacht. Ich war abgehauen und hatte mir einen netten Abend mit meiner Freundin gemacht. Und als die vier am nächsten Morgen nicht da waren, dachte ich mir, dass sie sich irgendwo vergnügten. Gil war Margots Freund gewesen, wobei ich dachte, die beiden hätten sich getrennt. Meine Schwester hatte etwas mit Doug Billingham angefangen, aber das war nichts wirklich Ernstes gewesen. Die beiden Paare waren einfach abgehauen, um sich zu amüsieren.
    Also hatte ich gelogen. Ich hatte behauptet, ich hätte die Hütten überprüft und sie hätten in ihren Betten gelegen. Weil ich mir der Gefahr damals nicht bewusst war. Ich sagte, ich wäre in jener Nacht allein gewesen – diese Lüge habe ich lange aufrechterhalten  –, weil ich Lucy schützen wollte. Ist das nicht seltsam? Ich wusste nichts über die furchtbaren Dinge, die da vorgefallen waren. Also hatte ich gelogen. Als Margot Greens Leiche entdeckt worden war, hatte ich sofort fast die ganze Wahrheit eingestanden  – dass ich meine Nachtwache vernachlässigt hatte. Nur von Lucy hatte ich nichts gesagt. Und nachdem ich einmal gelogen
hatte, wollte ich diese Lüge nicht wieder richtigstellen. Die Polizei war mir gegenüber schon misstrauisch geworden – ich erinnerte mich noch genau an Sheriff Lowells skeptische Miene –, und wenn ich hinterher doch noch zugegeben hätte, dass ich mit Lucy zusammen war, hätte die Polizei sich gefragt, warum ich anfangs gelogen hatte. Außerdem war es sowieso egal.
    Schließlich spielte es doch keine Rolle, ob ich allein oder mit jemandem zusammen war? Ich hatte meine Pflicht vernachlässigt und nicht auf die anderen aufgepasst.
    In der Verhandlung hatten Ira Silversteins Verteidiger versucht, mir eine Teilschuld an den Geschehnissen zu geben. Aber ich war damals nur ein Jugendlicher gewesen. Allein auf der Jungsseite des Lagers gab es zwölf Hütten. Selbst wenn ich an meinem Platz gewesen wäre, hätte man sich leicht davonschleichen können. Die Sicherheitsmaßnahmen im Ferienlager waren unzureichend. Das traf zu. Aus juristischer Sicht war es nicht meine Schuld.
    Aus juristischer Sicht.
    »Mein Vater ist immer wieder in den Wald gegangen«, sagte ich.
    Sie sah mich an.
    »Er hat Löcher gegraben.«
    »Warum?«
    »Er hat meine Schwester gesucht. Er hat behauptet, er würde Angeln gehen. Aber ich hab gewusst, wo er hinfährt. Das hat er noch jahrelang gemacht.«
    »Und wann hat er damit aufgehört?«
    »Meine Mutter hat uns verlassen. Ich glaube, da hat er gemerkt, dass er durch seine Besessenheit schon viel zu viel verloren hat. Stattdessen hat er eine Detektei beauftragt und ein paar alte Freunde angerufen. Aber ich glaube nicht, dass er dann noch mal in den Wald gefahren ist und da gegraben hat.«
    »Das ist das Problem, wenn man keine Leiche findet«, sagte
ich. »Ich nehme an, dass du dich auch mit den Trauerphasen beschäftigt hast?«
    »Habe ich.« Sie nickte,

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