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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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deinen Eltern?«, fragte Lucy.
    »Mein Vater ist vor ein paar Monaten gestorben.«
    »Das ist schade. Ich erinnere mich aus diesem Sommer noch gut an ihn.«
    »Das war das letzte Mal, dass er wirklich glücklich war«, sagte ich.
    »Wegen deiner Schwester?«
    »Wegen vielem. Dein Vater hatte ihm die Möglichkeit gegeben, wieder als Arzt zu arbeiten. Die Medizin war sein Leben. Er hat nie wieder eine Chance bekommen.«

    »Tut mir leid.«
    »Eigentlich wollte mein Vater sich gar nicht an dem Prozess beteiligen – er hat Ira verehrt –, aber irgendjemandem musste er die Schuld geben, außerdem hat meine Mutter ihn dazu gedrängt. Und die anderen Familien haben ja auch alle mitgemacht.«
    »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
    Ich schwieg. Sie hatte Recht.
    »Und deine Mutter?«, fragte sie.
    »Die Ehe hat das nicht überlebt.«
    Die Antwort schien sie nicht zu überraschen.
    »Hast du was dagegen, wenn ich aus psychologischer Sicht etwas dazu sage?«, fragte sie.
    »Absolut nicht.«
    »Der Verlust eines Kindes ist eine ungeheuere Belastung für eine Ehe«, sagte Lucy. »Die meisten Leute glauben, dass nur die stärksten Ehen so einen Schlag überstehen. Das stimmt nicht. Ich habe darüber geforscht. Es gibt Ehen, deren Zustand deutlich zu wünschen übrig ließ, die haben einen solchen Einschnitt überlebt und sich sogar deutlich verbessert. Andere, die aussahen, als wären sie für die Ewigkeit geschlossen, platzten wie billiger Gips. Versteht ihr euch gut?«
    »Meine Mutter und ich?«
    »Ja.«
    »Ich hab sie seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen.«
    Sie saß nur schweigend da.
    »Du hast viele Menschen verloren, Paul.«
    »Du willst mich jetzt doch wohl keiner Psychoanalyse unterziehen, oder?«
    »Nein, absolut nicht.« Sie lehnte sich zurück und blickte zur Decke. Dieser Anblick brachte mich wieder in die Vergangenheit. Wir hatten auf dem ehemaligen Baseballfeld des Ferienlagers gesessen, das schon damals mit hohem Gras zugewachsen
war, ich hatte sie im Arm gehalten, und sie hatte so in die Luft geschaut.
    »Ich hab auf der Uni eine Freundin gehabt«, fing Lucy wieder an. »Sie war ein Zwilling. Zweieiig, nicht eineiig. Wahrscheinlich ist das nicht so wichtig, aber zwischen eineiigen Zwillingen besteht oft eine noch engere Verbindung. Ihre Schwester ist dann in unserem zweiten Studienjahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und meine Freundin hat ganz eigenartig reagiert. Natürlich war sie am Boden zerstört, aber dabei auch irgendwie erleichtert. Es war ein ganz fatalistisches Gefühl. In der Art: Gut, das war’s, Gott hat mich erwischt. Ich war an der Reihe. Aber jetzt hab ich erst mal meine Ruhe. Ich hab schon bezahlt. Wenn man seine Zwillingsschwester so verliert, ist man für den Rest des Lebens sicher. Von so herzzerreißenden Tragödien ist nur eine pro Person vorgesehen. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ja.«
    »Aber so läuft das im Leben nicht. Manche Menschen haben einen Freifahrtschein, der ihr Leben lang gültig ist. Andere, wie du, zahlen mehr als ihren Anteil. Viel mehr. Und das Schlimmste daran ist, dass keine Immunisierung eintritt. Man ist nicht davor geschützt, dass noch mehr kommt.«
    »Das Leben ist unfair«, sagte ich.
    »Amen.« Dann lächelte sie mir zu. »Das ist absolut schräg, oder?«
    »Ja.«
    »Dabei waren wir nur so, na ja, sechs Wochen zusammen, oder?«
    »So in der Art.«
    »Und wenn man sich das richtig überlegt, war das auch nur eine Sommerliebe. Du bist seitdem wahrscheinlich mit zig Frauen zusammen gewesen.«
    »Zig«, wiederholte ich.

    »Reicht das nicht? Eher hunderte?«
    »Mindestens«, sagte ich.
    Schweigen. Mir wurde warm ums Herz.
    »Aber du warst was Besonderes, Lucy. Du warst …«
    Ich brach ab.
    »Ja, ich weiß«, sagte sie. »Du auch. Deswegen ist das ja so schräg. Ich will alles über dich erfahren. Aber ich weiß nicht, ob wir die Zeit dafür haben.«
    Es war fast so, als ob ein Chirurg am Werk wäre, eine Art Schönheitschirurg, der Zeitfalten entfernt. Er hatte die letzten zwanzig Jahre weggeschnitten, mein achtzehnjähriges Ich aus der Vergangenheit geholt und es gegen mein achtunddreißigjähriges Ich ausgetauscht, und dabei war so gut wie keine Narbe zurückgeblieben.
    »Und warum hast du mich angerufen?«, fragte ich.
    »Du meinst das seltsame Ereignis?«
    »Ja.«
    »Du hast gesagt, dass bei dir auch was passiert ist.«
    Ich nickte.
    »Du kommst als Erster«, sagte sie. »Du weißt schon, wie damals, als wir rumgemacht

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