Grab im Wald
als sie das Problem erkannte. »Die erste Phase ist das Nicht-wahrhaben-Wollen.«
»Genau. Und darüber sind wir gewissermaßen nie hinausgekommen.«
»Keine Leiche, ergo, Verleugnung. Ihr hättet einen Beweis gebraucht, um in die nächste Phase eintreten zu können.«
»Mein Vater zumindest. Na ja, ich war mir sicher, dass Wayne sie umgebracht hatte. Aber dann habe ich mitgekriegt, wie mein Vater da suchen geht.«
»Und da hast du Zweifel bekommen.«
»Sagen wir, ich habe die Möglichkeit in meinem Kopf am Leben erhalten.«
»Und was war mit deiner Mutter?«
»Sie hat sich immer weiter von uns entfernt. Die Ehe meiner Eltern hat nie wirklich gut funktioniert. Da hatten sich schon viele Risse gebildet. Als meine Schwester gestorben ist – oder was auch immer da passiert ist –, hat sie sich ganz von ihm zurückgezogen.«
Wir schwiegen. Die letzten Reste des Tageslichts schwanden. Am Himmel bildete sich ein tiefroter Wirbel. Ich sah aus dem Fenster. Auch sie sah aus dem Fenster. Wir saßen einfach da und waren uns so nahe, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.
Vorhin hatte ich gesagt, dass die Jahre wie durch einen chirurgischen Eingriff entfernt worden waren. Jetzt schienen sie zurückzukehren. Die Traurigkeit war wieder da. Ich sah sie ihr an. Die anhaltende Zerstörung, die meine Familie seit jener Nacht erlebt hatte, war unübersehbar. Ich hatte gehofft, dass Lucy darüber hinweggekommen war. Aber das war sie nicht. Auch für sie hatte es keinen Abschluss gegeben. Ich wusste nicht, was sie in den letzten zwanzig Jahren noch erlebt hatte. Es wäre zu einfach, dieses eine Ereignis für die Trauer in ihren Augen verantwortlich
zu machen. Aber jetzt erkannte ich es. Ich erkannte, dass ich mich schon in jener Nacht von ihr entfernt hatte.
In dem Erlebnisbericht stand, dass sie nie über mich hinweggekommen war. So eingebildet war ich nicht. Aber ganz offensichtlich war sie nie über jene Nacht hinweggekommen und das, was diese Nacht ihrem Vater und ihrer Jugend angetan hatte.
»Paul?«
Sie sah noch immer aus dem Fenster.
»Ja?«
»Was machen wir jetzt?«
»Wir stellen fest, was damals im Wald wirklich passiert ist.«
22
Ich erinnere mich noch daran, wie ich auf einer Italienreise Wandteppiche gesehen hatte, bei denen sich die Perspektive in Abhängigkeit vom Standort des Betrachters veränderte. Wenn man von rechts guckte, war der Tisch nach rechts ausgerichtet. Wenn man nach links ging, schien er einem zu folgen.
Gouverneur Dave Markie war die Verkörperung dieses Phänomens. Wenn er einen Raum betrat, hatte jeder Anwesende das Gefühl, der Gouverneur sehe nur ihn an. Während des Studiums hat er mit dieser Masche unglaublich viele Frauen abgeschleppt – eben nicht, weil er so gut aussah, sondern weil jede Frau glaubte, er hätte nur Augen für sie. Sein Blick hatte etwas Hypnotisches. Ich erinnere mich noch daran, wie eine lesbische Freundin in Rutgers mir einmal sagte: »Wenn Dave Markie einen so anguckt, ach, da könnte ich doch gut mal für eine Nacht ins andere Lager wechseln.«
So trat er auch in mein Büro. Meine Sekretärin Jocelyn Durels kicherte. Loren Muse wurde rot. Selbst Joan Thurston, die U.S.-Staatsanwältin für New Jersey, lächelte auf eine Art, die
mir verriet, wie sie ausgesehen haben musste, als sie in der siebten Klasse ihren ersten, heimlichen Kuss bekam.
Die meisten Leute würden behaupten, es läge an der Macht, die mit dem Amt verbunden ist. Aber ich kannte ihn schon, als er noch kein Gouverneur war. Das Amt steigerte die Macht, erzeugte sie aber nicht.
Wir umarmten uns zur Begrüßung. Mir ist aufgefallen, dass auch Männer das jetzt tun – sie umarmen sich zur Begrüßung. Mir gefällt das, weil es ein echter Kontakt zu Menschen ist, die einem nahestehen. Ich habe nicht viele echte Freunde, aber die wenigen sind mir sehr wichtig. Sie sind handverlesen, und ich liebe jeden einzelnen.
»Es wäre besser, wenn die Leute hier verschwinden«, flüsterte Dave mir ins Ohr.
Wir lösten die Umarmung. Er lächelte weiter, aber ich hatte ihn verstanden. Ich schickte Jocelyn und Muse raus. Nur Joan Thurston blieb. Ich kannte sie ziemlich gut. Das Büro der U.S.-Staatsanwältin lag gleich um die Ecke. Wir versuchten, zusammenzuarbeiten und uns gegenseitig zu helfen. In unseren Zuständigkeitsbereichen gab es große Überschneidungen – Essex County war ein heißes Pflaster –, aber sie kümmerte sich nur um die großen Sachen. Im Moment waren das vor allem Terrorismus
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