Grabesdunkel
sehen. Der Mord an Helle Isaksen war überall Thema. In den Zeitungen, im Internet, im Fernsehen, im Radio.
Er starrte eine Weile aus dem Fenster. Dann wischte er mit einer wütenden Geste alle Zeitungen vom Tisch.
Kapitel 10
Ellen hatte Joakim am Dienstagmorgen mit einer dampfenden Tasse Kaffee geweckt.
»Es war unmöglich, gestern Abend noch Leben in dich zu bekommen«, hatte sie sich entschuldigt.
Er lag noch immer auf dem Sofa, mit einer Bettdecke über sich. Es war schon nach acht, und er musste in die Gänge kommen. Joakim zog ein paar Sachen an, die er in seinem alten Kleiderschrank gefunden hatte. AnschlieÃend ging er zur Bushaltestelle.
Auf dem Weg zur Fähre kam er an einem Kiosk vorbei. An diesem Dienstagmorgen hatten VG und Dagbladet ihre Revanche bekommen. Joakim schüttelte sich, als er die Titelseiten sah. »Exfreund heute Nacht vernommen« und »Exfreund unter Verdacht«, posaunten VG und Dagbladet in fetten Lettern hinaus. VG hatte ein Foto abgedruckt, auf dem Helle Isaksen ihren Exfreund Tom Marius Westerberg küsste â seine Augen wurden von einem schwarzen Balken verdeckt. Dagbladet brachte ein Bild von Tom Marius Westerberg auf dem Weg zur Vernehmung. Er verbarg das Gesicht mit der Jacke. Beide sprachen inzwischen nicht mehr vom »Majorstua-Mord«, sondern vom Handelshochschulmord.
Aftenposten hatte die Lohnentwicklung im Gesundheitssektor zum Hauptthema gemacht. Das war nicht weiter überraschend, da Aftenposten nur selten ausführlich über Mordfälle berichtete. Nyhetsavisen hatte eine Ãbersicht über die ärmsten Gemeinden Norwegens als Aufmacher gewählt. Auf der Titelseite war kein Wort über den Mord zu lesen.
Joakim biss die Zähne fest aufeinander. Das würde heute ein harter Tag werden.
Der Ressortleiter saà mit gebeugtem Rücken in seinem Büro. Fredrik Telles Körpersprache war nicht gerade als subtil zu bezeichnen.
»Hol zwei Kaffee und komm rein«, bellte er, als Joakim an seiner Tür vorbeiging.
Eigentlich war es nicht erforderlich, dass die leitenden Mitarbeiter von morgens bis abends anwesend waren, wenn sie Dienst hatten, doch Fredrik Telle hielt das so. Er hatte kein Privatleben. Die letzten Jahre bei Nyhetsavisen hatte er als Journalist und als Nachrichtenchef und dann wieder als Journalist gearbeitet, und jetzt war er Ressortleiter. Der ständige Positionswechsel war auf seinen hohen Alkoholkonsum zurückzuführen. Alkoholismus war unter Presseleuten so weit verbreitet, dass das an und für sich kein Thema war, doch Telle hatte bei diversen Anlässen in betrunkenem Zustand sowohl den Vorstandsvorsitzenden als auch den Chefredakteur angegriffen, weil er mit ihren Prioritätensetzungen nicht einverstanden gewesen war. Dass die Nachrichtenchefin Katarina Hoff ihm jedes Mal die Haut gerettet hatte, war in der Redaktion allgemein bekannt.
»Ohne Milch und Zucker?«, fragte Joakim.
»Ja. Setz dich.«
Joakim nahm eine Jacke und einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl, der am Fenster stand. In der Regel sorgte Telle dafür, dass der Stuhl so voll beladen war, dass niemand sich setzen mochte. Die Leute fassten sich kurz, wenn sie stehen mussten. Das galt auch für die Konferenzen: Telle bevorzugte Besprechungen, bei denen man am runden, hohen Tisch in der Redaktion stand. Das sparte Zeit.
»Der gestrige Tag war eine Katastrophe, was den Handelshochschulmord angeht. Die anderen haben uns haushoch überrundet. Wir haben nichts Neues«, begann Telle.
Joakim antwortete nicht. Er wollte nichts Hässliches über die Kollegen sagen.
»Du beschäftigst dich heute weiter mit dem Mord«, fuhr Telle fort.
»Okay. Wer noch?«
»Sorry, wir haben sonst niemanden heute. Die Krankmeldungen flattern nur so herein. Ein Virus geht um, und die Sommerpraktikanten fangen erst in sechs Wochen an. Wir müssen sehen, ob wir noch ein paar Leute auf den Fall ansetzen können, wenn die Spätdienstler kommen.«
Die Kriminalredaktion gehörte zur Nachrichtenabteilung in der fünften Etage. Die kriminelle Ecke, wie sie sie nannten, war ein verglaster Bereich in der ansonsten offenen Bürolandschaft. Die Glaswände waren zum Teil wieder zugestellt mit Regalen, Tafeln und alten Zeitungen, die aus Angeberei, als Schmuck oder als Sichtschutz vor den Kollegen aufgehängt worden waren. Der Fotograf Rasmus Sender saà über die Zeitungen der Konkurrenz
Weitere Kostenlose Bücher