Grabesdunkel
eine Narbe fürs Leben zu verpassen.
»Das nächste Mal bringe ich dich um«, sagte er, bevor er die Flasche wegwarf und weiter auf sie einschlug.
Sie wurde ohnmächtig.
Irgendwann wurde sie geweckt. Von einem Paar, das auf dem Heimweg über den Friedhof spazierte. Als sie die Augen aufschlug, sah sie einen Mann und eine Frau. Sie blinzelte, es wurde langsam hell. Die beiden halfen ihr aufzustehen, schleppten sie streckenweise durch den Park und brachten sie zum ärztlichen Notdienst in der Storgate. Auf dem ganzen Weg sagte sie nicht ein Wort. Es war nicht nötig. Sie hatten sie mit entblöÃtem Unterleib gefunden, Blut klebte an ihren Unterschenkeln und in ihrem Gesicht.
Als sie bei der Anmeldung des ärztlichen Notdienstes angekommen waren, ging Agnes mit gebeugtem Rücken zu ein paar schwarzen Plastikstühlen und legte sich hin, während das Paar der Schwester erklärte, was passiert war. Agnes nickte ein. Als sie erwachte, war das Paar fort, und eine Krankenschwester saà bei ihr und strich ihr über die Haare.
»Kommen Sie mit?«
Die Krankenschwester führte Agnes nach hinten und setzte sie auf einen Stuhl, während sie selbst vor einem PC Platz nahm. Agnes antwortete leise und mechanisch auf alle Fragen.
»Wurden Sie vergewaltigt?«
»Nein«, antwortete Agnes.
Die Krankenschwester warf einen Blick auf ihre blutigen Schenkel.
Später wurde Agnes zu einer Sozialarbeiterin gebracht, die sich um Vergewaltigungsopfer kümmerte. Sie legte sich einfach auf das Sofa, das mitten im Raum stand. Alles, was hier passierte, war reine Routine. Auf dem Tisch standen Papiertaschentücher bereit. Die Sozialarbeiterin setzte sich auf einen der schwarzen Ledersessel ihr gegenüber.
»Wollen Sie reden?«, fragte die Sozialarbeiterin.
Agnes schüttelte den Kopf.
»Sollen wir jemanden anrufen? Haben Sie Familie?«
»Meine ganze Familie lebt in Molde«, flüsterte sie.
»Haben Sie einen Freund, einen guten Bekannten oder eine Freundin, die wir benachrichtigen können?«
Agnes wollte eigentlich niemanden sehen. Aber ihr war klar, dass sie jemanden brauchte, der alles für sie regelte, und gab einen Namen an.
Sie wurde zum Arzt gebracht und bekam die Anweisung, sich auf den weiÃen Gynäkologenstuhl im Untersuchungsraum zu setzen. Es tat schrecklich weh, als sie die Beine spreizte. Ihre Augen waren von den Schlägen geschwollen. Sie fixierte das Bild einer blaulila Blume, das an der Wand hing, und versuchte, sich darauf und nicht auf die Schmerzen zu konzentrieren, die der Arzt ihr zufügte.
»Sie haben ganz schön was abbekommen«, sagte der Arzt schlieÃlich.
In diesem Moment fasste Agnes einen Entschluss. Dass der Gewalttäter ihren Unterleib misshandelt hatte, würde sie niemandem verraten. Sie wusste, dass alles anders sein würde, wenn sie die Details des Ãberfalls preisgab. Die Kollegen, die davon erfuhren, würden sie für alle Zeit anders anschauen â mitleidig. Sie würden in ihr ein Opfer sehen. Dass der Typ sie geschlagen hatte, war das eine. Dass sie auch sexuell misshandelt worden war, etwas ganz anderes.
Agnes schloss die Augen. Erinnerungen aus der Schulzeit in Molde tauchten vor ihr auf. Eine Fete zu Hause bei einem Klassenkameraden, laute Musik, dicker Zigarettenrauch. Plötzlich war eine Mitschülerin weinend ins Wohnzimmer gekommen. Sie war halb ausgezogen, Tränen liefen ihre Wangen hinunter, während sie schluchzend erzählte, dass sie von einem der älteren Jungen im Schlafzimmer vergewaltigt worden war. Die Jungen machten sich allesamt aus dem Staub. Das Mädchen schaffte es nicht, die Vergewaltigung bei der Polizei anzuzeigen, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, weiterzuleben, den Vorfall hinter sich zu lassen. Doch die Gerüchte hatten ihr eigenes Leben, und selbst heute noch war sie in Molde das Mädchen, das vergewaltigt worden war.
Es gab keinen Grund, einen Menschen auf eine so kränkende Tat zu reduzieren, hatte Agnes immer gedacht. Allein der Gedanke, selbst einen Opferstempel aufgedrückt zu bekommen, verursachte ihr Brechreiz. Agnes hätte nicht gedacht, dass sie so reagieren würde. Sie, die immer dafür gewesen war, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, die Sache der Schwachen zu vertreten. Doch Scham ist ein mächtiges Gefühl. Auch für die Starken.
»Hat er die Hand genommen?«, fragte der Arzt.
Agnes nickte. Reden
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