Grabesdunkel
war ihr nur einige wenige Male begegnet. Dem Charmeur zufolge war sie eine Verräterin.
Der Chef hatte nicht direkt eingewilligt, doch er hatte den Charmeur mit einem Blick angesehen, den dieser als Zustimmung gewertet hatte. Und sie hatte es nicht geschafft zu protestieren â das schaffte sie nie, wenn sie mit ihnen zusammen war. Der Gedanke, was passieren würde, wenn das herauskam, lähmte sie. Der Charmeur hatte sie angesehen. Abschätzend und zu allem bereit wie immer. Er hatte ein gefährliches, einfaches Gemüt, das die Welt in Freunde und Feinde aufteilte. Ester war zu seiner Feindin geworden, und alle Zärtlichkeit, die er einmal für seine Geliebte empfunden haben musste, war erloschen. Veronica konnte es ihm ansehen, sein ganzes Wesen strahlte Hass aus. Der Mord an Ester musste sie retten, musste dafür sorgen, dass sie sich nicht nutzlos die Hände mit Blut besudelt hatten.
Sie stand auf, ging ins Bad, zum Waschbecken. Sie drehte den Hahn auf, seifte ihre Hände ein, einmal, zweimal, schrubbte die Nägel, die Zwischenräume zwischen den Fingern, wanderte weiter zu den Handgelenken hoch, rieb die Hände immer wieder mit der gelben Flüssigseife ein, als könnte sie das, was passiert war, abwaschen.
Sie blickte zu Boden, mied ihr eigenes Spiegelbild, wollte ihrem anklagenden Blick nicht begegnen. Wollte das erschöpfte, alternde Gesicht nicht sehen. Eple â der Name klang fruchtig und taufrisch. Es war ein Künstlername. Vor gut zehn Jahren hatte sie sich unter dem Namen »Apple« als Popkünstlerin versucht. Sie war groà herausgekommen. Ihr frecher Look hatte in der Presse für Aufmerksamkeit gesorgt. Und als vollkommen zufällig ein paar Nacktaufnahmen aufgetaucht waren, hatte der Medienrummel hohe Wellen geschlagen. Sie hatte sich einen Platz unter den Promis erobert.
Doch wie schon so viele vor ihr hatte auch sie die Erfahrung machen müssen, dass Bekanntheit keine Garantie für Verkaufszahlen war. Das Album wurde ein Flop. Apple war nur noch eine Computerfirma. Was Veronica blieb, war die norwegische Version des Namens, Eple. Sie sah keinen Grund, ihren eigentlichen Nachnamen Hansen wieder zu benutzen. Neunundvierzig andere Frauen in Norwegen standen mit exakt diesem Namen im Telefonbuch â Veronica Hansen. Sie hatte vorgehabt, ein Studium zu beginnen. Sie hatte immer davon geträumt, Innenarchitektin zu werden. Doch ihre Studienpläne waren bei drogengeschwängerten Studentenpartys in den heiÃesten Bars der Stadt untergegangen.
Es wird schon werden, sagte sie laut zu sich selbst, während das Wasser aus dem Hahn lief. Man wird uns nicht drankriegen.
Kapitel 38
Nach dem Einsatz am Tatort stürzte Joakim in die Redaktion. Fredrik Telle saà groà und massig an seinem Platz, während er seine Befehle hinausbellte. Joakim wusste, dass er heute Abend richtig guten Stoff hatte.
»Haben wir den Namen der Ermordeten?«, fragte Telle.
»Nein, aber den bekommen wir noch früh genug. Dafür habe ich was zum Verhandeln.«
Telle nickte zufrieden.
Joakim ging in die Kriminalredaktion, wo keine Journalisten waren. Er schloss die Glastür hinter sich, setzte sich ans Festnetztelefon und wählte.
»Hei, Kikki. Wisst ihr schon, wer das Mädchen ist?«
»Das kann ich noch nicht sagen. Tut mir leid, Joakim, es ist zu früh.«
»Kennt ihr die beiden, die die Leiche in den See geworfen haben?«
»Zwei, sagst du? Woher weiÃt du das?«
Er antwortete nicht. »Du zuerst.«
»Okay«, sagte Kikki. »Die gute Nachricht ist, dass wir Ester gefunden haben«, sagte sie trocken.
Joakim spürte den Druck im Magen, als würde er in einer Lawine zu Tal rutschen. »Oh, nein, sie war das also?«
»Unsere Leute sind gerade auf dem Weg zu ihren Eltern.«
»Noch andere Spuren?«
»Ich denke, wir reden über denselben Täter. Oder haben wir es vielleicht mit zwei Tätern zu tun? Hast du einen Zeugen, der Personenschutz braucht?«, fragte Kikki.
Joakim bestätigte das, und sie diskutierten mögliche SicherheitsmaÃnahmen, um Ewald Knutsen zu schützen.
Er blieb noch eine Minute sitzen, nachdem sie aufgelegt hatten. Was zum Teufel ging hier vor? Warum war auch Ester ermordet worden? Und wer hatte Agnes misshandelt?
Joakim öffnete ein neues Dokument und begann mit dem ersten Artikel unter der Ãberschrift »Nun auch Freundin ermordet«.
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