Grabesgrün
Fähre, die sich klein und adrett wie ein Spielzeug unverdrossen am Horizont entlangkämpfte. Ihr Gesicht, das sie in den sanften Regen hielt, war unergründlich. »Wieso?«, fragte ich.
»Einfach so.«
Ich dachte lange über die Frage nach. Meine Erinnerungen an sie waren vor lauter Überbeanspruchung ganz abgegriffen, nur noch blasse, durchscheinende Farbbilder, die an den Wänden meines Gedächtnisses flimmerten: Jamie, die zielstrebig und trittsicher zu einem hohen Ast hinaufklettert, Peters Lachen, das vor mir aus dem grünen Trompe-l’œil-Geflimmer springt. Durch eine allmähliche Verwandlung waren sie zu Kindern aus einem unvergesslichen Märchenbuch geworden, strahlende Mythen einer untergegangenen Kultur. Es war kaum noch vorstellbar, dass sie mal real gewesen waren und meine Freunde.
»In welcher Hinsicht?«, fragte ich schließlich lahm. »Charakter oder Aussehen oder was?«
Cassie zuckte die Achseln. »Egal.«
»Sie waren beide ungefähr so groß wie ich. Durchschnittlich, würde ich sagen. Beide waren schlank. Jamie hatte weißblonde Haare, zum Bubikopf geschnitten, und eine Stupsnase. Peter hatte hellbraune Haare, diesen wallenden Haarschnitt, den kleine Jungs oft haben, wenn ihre Mütter ihnen die Haare schneiden, und grüne Augen. Wahrscheinlich wäre er ein sehr gutaussehender Mann geworden.«
»Und vom Charakter her?« Cassie sah zu mir hoch. Der Wind presste ihr das Haar glatt an den Kopf. Manchmal hakte sie sich auf solchen Spaziergängen bei mir ein, aber ich wusste, das würde sie jetzt nicht machen.
Im ersten Jahr auf dem Internat hatte ich ständig an die beiden gedacht. Mein Heimweh war wild und verzweifelt. Ich weiß, das würde jedem Kind in dieser Situation so gehen, aber ich glaube, mein Unglück lag weit über der Norm. Es war ein unaufhörlicher Schmerz, alles verzehrend und lähmend, wie ein vereiterter Zahn. Jedes Mal, wenn meine Eltern mich zurück ins Internat brachten, mussten sie mich förmlich aus dem Auto zerren, weil ich mich heulend mit Händen und Füßen wehrte. Aber trotz dieser peinlichen Vorstellung, die ich regelmäßig ablieferte, war ich für die Schlägertypen an der Schule kein gefundenes Fressen – sie ließen mich links liegen, wahrscheinlich weil sie spürten, dass sie mir nichts tun konnten, wodurch ich mich noch schlechter gefühlt hätte. Die Schule war für mich nicht die Hölle auf Erden, sie war im Grunde sogar ganz in Ordnung, soweit man das von Internaten sagen kann, aber ich wollte nach Hause, mehr als ich mir je im Leben etwas gewünscht habe.
Ich rettete mich so, wie Kinder sich überall auf der Welt retten, indem ich mich in meine Phantasiewelt zurückzog. Während endlos langer Versammlungen saß ich auf wackeligen Stühlen und stellte mir vor, wie Jamie neben mir herumzappelte, beschwor jede Einzelheit an ihr, die Form ihrer Kniescheiben, die Neigung des Kopfes. Nachts lag ich stundenlang wach, während um mich herum Jungen schnarchten und murmelten, und konzentrierte mich mit jeder Zelle meines Körpers, bis ich ganz sicher wusste, dass Peter im Nachbarbett liegen würde, wenn ich die Augen aufschlug. Immer mal wieder warf ich eine Flaschenpost in den Fluss, der über das Schulgelände floss: »An Peter und Jamie. Bitte kommt zurück, bitte. Liebe Grüße, Adam.« Ich wusste ja, dass man mich weggeschickt hatte, weil sie verschwunden waren. Und ich wusste, wenn sie eines Abends wieder aus dem Wald auftauchen würden, verdreckt und von Brennnesseln zerstochen und ausgehungert, dann dürfte ich wieder nach Hause.
»Jamie war ein Wildfang«, sagte ich. »Fremden, vor allem Erwachsenen gegenüber sehr schüchtern, aber in körperlichen Dingen völlig furchtlos. Ihr beide hättet euch gemocht.«
Cassie lächelte mich von der Seite an. »1984 war ich erst zehn. Ihr drei hättet nicht mal mit mir geredet.«
Für mich war das Jahr 1984 wie eine abgetrennte Privatwelt. Die Erkenntnis, dass Cassie ja auch schon da gewesen war, nur ein paar Meilen weit entfernt, schockierte mich irgendwie. In dem Augenblick, als Peter und Jamie verschwanden, spielte sie mit ihren eigenen Freunden oder fuhr Rad oder aß zu Abend, ohne zu ahnen, was gerade geschah, und ohne die langen verschlungenen Pfade vorauszusehen, die sie zu mir und nach Knocknaree führen würden. »Und ob wir das hätten«, beteuerte ich. »Wir hätten gesagt: ›Her mit deinem Taschengeld, du kleine Kröte.‹«
»Das sagst du ja heute noch. Erzähl weiter von Jamie.«
»Ihre Mutter war
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