Grabesgrün
Bis zu der Ausgrabung und der Schnellstraße und Katy hatte sich Knocknaree nur durch ihn einer gewissen Berühmtheit erfreuen können. Ein paar Namen und ein paar Gesichter kamen mir irgendwie bekannt vor. Ich betrachtete sie mit möglichst unbeteiligter Polizistenmiene.
Nach rund einer Stunde klopften wir an die Haustür von Knocknaree Drive Nr. 27 und stießen auf Mrs Pamela Fitzgerald – noch immer am Leben und noch immer putzmunter. Mrs Fitzgerald war großartig. Sie war achtundachtzig, mager und halbblind und tief gebeugt. Sie bot uns Tee an, überging unser »Nein, vielen Dank« und verschwand in der Küche, von wo aus sie sich rufend weiter mit uns unterhielt und wissen wollte, ob wir endlich ihr Portemonnaie gefunden hätten, das ihr ein Jugendlicher vor drei Monaten in der Stadt gestohlen hatte, und wieso nicht. Es war ein eigenartiges Gefühl zu erleben, wie sie jetzt, nachdem ich in der alten Akte ihre verblasste Handschrift gesehen hatte, über ihre geschwollenen Knöchel klagte (»Sie sind eine einzige Qual, wirklich.«) und sich entrüstet weigerte, als sie mit einem vollbeladenen Tablett in tattrigen Händen an der Küchentür erschien, sich von mir helfen zu lassen. Genauso gut hätte Tutenchamun eines Abends in eine Kneipe marschieren und sich über zu wenig Schaum auf dem Bier beschweren können.
Sie stammte aus Dublin, erzählte sie uns, war aber vor siebenundzwanzig Jahren nach Knocknaree gezogen, als ihr Mann (»Gott hab ihn selig«), der bei der Bahn als Zugführer gearbeitet hatte, in den Ruhestand ging. Seitdem war die Siedlung ihr Mikrokosmos, und ich war sicher, dass sie jedes Vorkommnis und jeden Skandal genauestens hätte schildern können. Sie kannte die Devlins, natürlich, und mochte sie: »Ach, das ist eine reizende Familie. Sie war immer ein liebes Mädchen, Margaret Kelly, hat ihrer Mummy nie Sorgen bereitet, außer« – sie neigte sich zu Cassie hinüber und senkte verschwörerisch die Stimme – »als sie damals schwanger wurde. Und, meine Liebe, wissen Sie, auch wenn die Politiker und die Kirche immer jammern, wie schockierend eine Schwangerschaft im Teenageralter ist, ich sage Ihnen, manchmal ist das gar nicht so schlimm. Dieser Devlin-Junge war ein kleiner Tunichtgut, wirklich, aber sobald die Kleine von ihm schwanger wurde, hat er sich von Grund auf geändert. Er hat sich Arbeit gesucht und ein Haus, und sie hatten eine wunderhübsche Hochzeit. Das hat ihn auf den richtigen Weg gebracht. Schrecklich ist nur, was jetzt passiert ist, das arme Mädchen, es ruhe in Frieden.«
Sie bekreuzigte sich, tätschelte dann meinen Arm. »Und Sie kommen extra den weiten Weg von England hierher, um rauszufinden, wer das getan hat? Wie wunderbar von Ihnen. Gott segne Sie, junger Mann.«
»Die alte Ketzerin«, sagte ich lachend, als wir draußen waren. Mrs Fitzgerald hatte meine Laune erheblich verbessert. »Hoffentlich hab ich mit achtundachtzig auch noch so viel Schwung.«
Kurz vor sechs machten wir Schluss und gingen zu dem einzigen Pub in der Siedlung – Mooney’s, gleich neben dem Laden –, um uns die Nachrichten anzusehen. Wir hatten nur einen kleinen Teil der Nachbarschaft abgeklappert, aber wir hatten einen Eindruck von der allgemeinen Stimmung gewonnen, und es war ein langer Tag gewesen. Ich hatte das Gefühl, als wären wir schon vor mindestens zwei Tagen bei Cooper gewesen, und ich verspürte den diffusen Drang weiterzugehen, bis wir zu meiner alten Straße kämen – mal sehen, ob Jamies Mutter die Tür aufmachte, wie Peters Brüder und Schwestern heute aussahen, wer in meinem alten Zimmer wohnte –, aber ich wusste, dass das unklug wäre.
Wir kamen gerade rechtzeitig: Als ich unseren Kaffee zum Tisch trug, drehte der Mann hinter der Theke den Fernseher lauter, und die Nachrichten begannen mit einer schwungvollen synthetischen Fanfare. Katy war die Hauptmeldung. Die Moderatoren im Studio blickten entsprechend ernst, und ihre Stimmen vibrierten an jedem Satzende, um die Tragik zu signalisieren. In einer Ecke des Bildschirms wurde das gekünstelte Foto aus der Irish Times eingeblendet.
»Bei dem Mädchen, das gestern tot auf dem Gelände der umstrittenen Ausgrabung bei Knocknaree gefunden wurde, handelt es sich, wie inzwischen feststeht, um die zwölfjährige Katharine Devlin«, begann der Moderator. Entweder die Farbe war falsch eingestellt oder er hatte zu viel Selbstbräuner benutzt: Sein Gesicht war orange und das Weiß seiner Augen unnatürlich weiß. Die
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