Grabesstille
Medikament, das sie Ihnen gäben, um die Infektion zu stoppen. Nur dass es zu spät war. Und ich hatte die ganze Zeit Earls Pillen, und wenn ich Ihnen mehr davon gegeben hätte –«
»Moment! Soll das heißen – glauben Sie ernsthaft – sagen Sie bloß nicht, Sie hätten das monatelang geglaubt!«
»Es stimmt doch«, entgegnete ich.
»Irene, die Kugel hat die Arterie verletzt. Deshalb haben sie amputiert. Nicht wegen der Infektion.«
»Aber man hat Ihnen doch –«
»Ja, man hat mir etwas gegen die Infektion gegeben, aber tun Sie mir einen Gefallen und fragen Sie Dr. Riley, um was für eine intravenöse Megadosis von diesem Mittel es sich dabei gehandelt hat. Die Infektion war weit über das Stadium hinaus, in der man sie mit Dosen in Tablettenform hätte bekämpfen können. Earls gesamte Monatsration hätte sie nicht aufhalten können.«
»Warum haben Sie dann überhaupt welche davon genommen?«
Er sah demonstrativ auf sein linkes Bein und sagte: »Man tut, was man kann, mit dem, was man hat.«
Ich brachte kein Wort heraus.
»Was die Frage angeht, ob Sie rechtzeitig zu mir gelangt sind, so wissen wir beide, dass Sie klug und umsichtig gehandelt haben, indem Sie abgewartet haben, bis Parrish weg war.«
»Aber vielleicht hätte ich –«
»Irene! Sie verdammte Idiotin! Hören Sie sich mal selbst reden.«
Ich hielt die Klappe.
»Wissen Sie was?«, fuhr er fort. »Wenn Sie mir jetzt offenbaren, dass Sie Ihren Doktor in Medizin gemacht haben, in Ihrem Rucksack ein Operationsbesteck hatten und wir dort oben in den Bergen sogar ganz in der Nähe eines sterilen Operationssaals waren, dann fange ich an, Ihnen schwere Vorwürfe zu machen, weil Sie mein Bein nicht gerettet haben. Falls nicht, dann hören Sie auf, sich wegen Ihrer Rolle in der ganzen Geschichte zu quälen. Sie sind diejenige, die mir dazu verholfen hat, mein Leben zu behalten, nicht diejenige, die schuld daran ist, dass ich einen Teil meines Beins verloren habe.«
Ich merkte, wie mir Tränen über die Wangen liefen. »Verdammt noch mal«, sagte ich und wischte sie weg. »Früher hab ich das nie gemacht. Es ist mir wirklich verhasst.«
»Sagen Sie das, damit ich weiß, dass Sie noch mehr Macho sind als ich?«
»Was?«
»Sie haben mich weinen sehen.«
»Sie haben eine Menge durchgemacht.«
Er lachte. »Nur ich und ganz allein, was?«
»Nein, aber –«
Er bildete mit den Händen ein T – das Zeichen dafür, dass meine Redezeit abgelaufen war.
»Ja?«
»Wir, die Jury, befinden die Angeklagte Irene Kelly für nicht schuldig. Nicht schuldig, weil sie geglaubt hat, dass ihr Gillian Sayre die Wahrheit sagte. Nicht schuldig, was den Tod ihrer Freunde und Begleiter angeht. Nicht schuldig in Bezug auf den Verlust von Ben Sheridans Bein. Nicht schuldig an irgendetwas anderem, was schief ging, weil sie nur ein Mensch ist oder nicht alles wusste, was man über das Universum und seine Bewohner wissen kann.«
Ich schnäuzte mich.
»Danke, Euer Ehren«, sagte er. »Die Verhandlung ist geschlossen. Sie haben nun die Freiheit, sich selbst zu verzeihen.«
Ich ging wieder zu Jo Robinson und erklärte ihr, dass ich wüsste, was mit mir nicht stimmte. Ich gab meinen Widerstand dagegen auf, meine Denkweise unter die Lupe zu nehmen, und schon bald war ich wieder in der Arbeit und ging nicht mehr zu ihr. Gerade als es angefangen hatte, mir Spaß zu machen.
Gillian Sayre wartet immer noch auf ihre Verhandlung. Phil Newly, der von jeglichem Verdacht freigesprochen wurde, spielte kurz mit dem Gedanken, sie zu verteidigen, beschloss dann aber doch, bei seinem Ruhestandsplan zu bleiben. In letzter Zeit schickt er mir einmal in der Woche eine E-Mail und erzählt mir von seinem neuen Leben. Er meint, er werde vielleicht hin und wieder unentgeltlich ein bisschen arbeiten, genießt aber sonst den gemächlicheren Gang.
Auch Jason Sayre schickt E-Mails. Er wohnt bei seiner Großmutter. Er schreibt mir gern, sagt er, weil Jack und ich die Einzigen sind, die mit ihm über die vergangenen Ereignisse reden. Jack, der schon fast gefragt hätte, ob er ihn adoptieren könne, besucht ihn ziemlich oft. Sie plaudern immer noch am Blechbüchsentelefon miteinander.
Giles Sayre hat seine Firma verkauft und ist mit seiner neuen Frau in eine Stadt gezogen, die nicht allzu weit von der entfernt liegt, in der Jason lebt, besucht seinen Sohn aber nur selten.
Jim Houghton ist nach Las Piernas zurückgekehrt. Er hatte einige Zeit bei einem Flugzeugmechaniker im Ruhestand
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