Grabesstille
hatten, zu höchstem Lob über meinen journalistischen Instinkt veranlasste, während sie bei mir Magenkrämpfe auslöste.
Im Handschuhfach lag Julia Sayres linker Daumen.
2
Vor vier Wochen, als die Geschichte über Kara Lane ans Licht kam, hatte ich eigentlich mit einem erneuten Anruf von Gillian gerechnet, in dem sie mich aufforderte, »der Sache nachzugehen«. In den Jahren nach Julias Verschwinden hatte ich stets von Gillian gehört, wenn im Express über bestimmte Ereignisse berichtet wurde. Wurde eine unbekannte Tote gefunden, bat mich Gillian mit ruhiger Stimme, in Erfahrung zu bringen, ob die unidentifizierte Leiche ihre Mutter sein könnte, wobei sie es nie versäumte, genaue Angaben über Größe, Haar- und Augenfarbe, Kleidung und Schmuck ihrer Mutter hinzuzufügen. War das Opfer eine blauäugige Brünette? Trug die Tote einen Goldring mit drei Rubinen?
Wenn ein Mann verhaftet wurde, der eine Frau umgebracht hatte, wollte sie, dass ich ihn befragte und herauszufinden versuchte, ob er auch ihre Mutter auf dem Gewissen hatte. Wurde in einem anderen Bundesstaat ein mutmaßlicher Serienmörder festgenommen, erwartete sie, dass ich ergründete, ob er je in Las Piernas gewesen war.
Zwischendurch hörte ich eine Weile bei der Zeitung auf und arbeitete für eine Werbeagentur. Gillian fand mich und rief mich dort an – O’Connor, mein alter Mentor beim Express , hatte eine Schwäche für Vermisstenfälle und verriet ihr, wo sie mich erreichen konnte. Als ich ihr empfahl, O’Connor zu bitten, einer dieser Geschichten nachzugehen, zitierte sie ihn mit der Aussage, dass es mir gut tun würde, mich daran zu erinnern, wie es war, einen richtigen Beruf zu haben.
Ich hätte mich ihrem Wunsch natürlich verweigern können, doch selbst aus der Distanz betrachtet, hatte ich mich im Lauf der Jahre zu intensiv ins Unglück der Familie Sayre verwickeln lassen.
Giles sah ich selten und ausschließlich in seinem Büro; offenbar arbeitete er bis in den späten Abend, um sich von seinem Kummer abzulenken. Seine Mutter zog zu ihnen ins Haus, um sich um die Kinder zu kümmern. Zwei Monate nach Julias Verschwinden gestand mir Giles, dass er nicht wusste, ob er einen Gedenkgottesdienst für sie abhalten lassen sollte. »Ich weiß nicht einmal, was erforderlich ist, um sie für tot erklären zu lassen«, sagte er. »Meine Mutter meint, ich soll warten, sonst würden die Leute denken, ich sei froh, sie los zu sein. Glauben Sie, dass das irgendwer denken würde?«
Ich erklärte ihm, dass er tun solle, was er für das Wohl seiner Familie für richtig hielt, und auf andere Leute pfeifen solle. Es war ein Rat, den er vermutlich nicht annehmen würde – die Meinung anderer schien ihm ungemein wichtig zu sein.
Jason bekam sowohl zu Hause als auch in der Schule regelmäßig Ärger. Seine Großmutter vertraute mir an, dass seine Noten nachgelassen hatten, er keinen Sport mehr trieb und zu einem Einzelgänger geworden war, der zu seinen früheren Freunden kaum noch Kontakt hatte.
Nur Gillian schien ihr gewohntes Leben weiterzuführen. Sie machte ihrer Großmutter genauso viel Kummer wie früher ihrer Mutter. Sie ging ohne Abschluss von der High School ab, zog aus und mietete sich allein eine kleine Wohnung, die sie finanzierte, indem sie in einer Boutique in der Allen Street – von meinem Freund Stuart Angert Pseudokünstlergasse genannt – arbeitete. Daneben brachte sie vier Jahre damit zu, Polizei und Presse ruhig und hartnäckig daran zu erinnern, dass jemand die Suche nach ihrer vermissten Mutter fortsetzen sollte, und ihr entschlossener Stoizismus hielt uns beschämt dazu an, das Wenige zu tun, was in unserer Macht stand.
An dem Tag, als der Fall Kara Lane zum ersten Mal Schlagzeilen machte, wartete Gillian vor dem Wrigley Building, der Heimstatt des Express , auf mich. Sie kam mir genauso vor wie damals, als ich sie kennen gelernt hatte: Ganz egal, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, enttäuscht zu werden, Gillian weigerte sich schlichtweg, eine Niederlage einzugestehen. Das berührte mich mehr als Tränen oder hysterische Anfälle. Nichts an ihrer Art veränderte sich; sie war oft barsch, aber nie schwach. Ihre Aufmachung – Kleidung, Frisur und Make-up – mochte ein bisschen extrem sein, doch ihre Gefühle, wie auch immer sie aussehen mochten, stellte sie nicht zur Schau.
Also führte ich Telefonate und verfolgte Hinweise. Nie kam irgendetwas dabei heraus. Bis Kara Lane verschwand.
Mittlerweile durfte ich
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