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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Wesen sich so schnell und so lautlos bewegte? Plötzlich fiel ihr die Illustration aus dem Buch mit den chinesischen Märchen ein – der Affenkönig mit seinem Stab in der Hand, sein langer Schwanz geringelt wie eine Schlange. Sie dachte an ein Schwert, das durch die Nacht zischte, eine Klinge, die ihren Hals durchschnitt. Ihr Blick schnellte nach oben, und einen Moment lang glaubte sie, es dort oben hocken zu sehen, glaubte seine Raubtieraugen in der Dunkelheit blitzen zu sehen. Aber da war keine wilde Kreatur, nur ein leerer Stahlhaken, der auf die nächste Rinderhälfte wartete.
    Nach und nach verhallte das Stöhnen und Ächzen. Trotzdem blieben sie und Colin wie angewurzelt stehen, Rücken an Rücken, während ihre Augen hektisch das Halbdunkel absuchten. Wohin Jane auch mit ihrer Taschenlampe leuchtete, nirgends konnte sie einen Eindringling entdecken, und doch hatte sie das Gefühl, dass die Dunkelheit selbst sie beobachtete. Und wer immer sich dort versteckt, dachte sie, dank der Lampe in meiner Hand weiß er ganz genau, wo wir sind.
    »Gehen Sie weiter«, flüsterte sie. »Zur Tür.«
    »Was ist das für ein Wesen? Womit haben wir es zu tun?«
    »Warten wir lieber nicht ab, bis wir es herausfinden.«
    Er hatte offenbar keine Lust, allein zurückzubleiben. Als sie in Richtung Tür vorrückte, spürte sie fast seinen Atem im Nacken. Einem Mann wie Colin verlieh eine Pistole in der Hand künstlichen Mut – genug, um einen Feigling in ein Großmaul und einen Killer zu verwandeln. Stellte man diesen Mann aber in eine dunkle Halle, wo er den Gegner nicht sehen konnte, wo die Blindheit alle gleich machte, dann stand der Feigling wieder ohne Maske da. Erst als sie den Ausgang erreichten und ins Freie traten, hörte sie ihn erleichtert aufatmen. Die Luft roch nach Meer, und am Himmel funkelten die Lichter der kreisenden Jets wie Sterne. Jane zog ihr Handy aus dem Gürtel, zögerte aber mit dem Anruf. Was sollte sie sagen? Es gab einen Stromausfall, und wir sind alle in Panik geraten. Wir haben Geräusche in der Dunkelheit gehört und eingebildete Monster gesehen.
    »Rufen Sie jetzt vielleicht an oder was?«, sagte Colin. Der Feigling war wieder dem Großmaul gewichen.
    Sie hob ihr Handy, um die Nummer zu wählen, und erstarrte in der Bewegung, den Blick auf das Dach des Lagerhauses geheftet. Auf die Gestalt, die dort hockte, ihre Silhouette vor dem Nachthimmel wie ein gotischer Wasserspeier. Das Wesen beobachtete sie, genau wie sie es beobachtete. Betrachtet es mich als Freund oder als Feind?
    »Da ist es!«, schrie Colin.
    Im gleichen Moment, als er seine Pistole hochriss, um zu feuern, fiel sie ihm in den Arm. Der Schuss ging weit daneben, die Kugel flog in den Himmel, ohne Schaden anzurichten.
    »Was soll der Scheiß?«, brüllte Colin. »Es hockt da oben – knallen Sie es ab!«
    Das Wesen auf dem Dach bewegte sich nicht; es saß einfach nur da und starrte sie an.
    »Wenn Sie es nicht machen, mach ich’s«, sagte Colin. Wieder hob er seine Waffe, dann hielt er plötzlich inne und suchte das Dach ab. »Wo ist es? Wohin ist es verschwunden?«
    »Es ist weg«, sagte Jane und starrte zu dem leeren Dach hinauf. Du hast schon einmal mein Leben gerettet; jetzt habe ich deines gerettet.

31
    »Donohue ist ein Drecksack«, sagte Tam. »Ich finde, wir sollten einfach abwarten, bis das Ding ihn erledigt. Soll es sie doch alle erledigen.«
    Das Ding. Sie hatten keinen anderen Namen für die Kreatur, die gestern Abend dort oben auf dem Dach des Lagerhauses gehockt hatte. Niemand hatte ihr Gesicht gesehen oder ihre Stimme gehört. Sie hatten sie immer nur flüchtig wahrgenommen und stets im Dunkeln, kaum mehr als ein huschender Schatten inmitten von Schatten. In der Schlacht zwischen Gut und Böse hatte das Ding sehr deutlich gemacht, auf welcher Seite es stand. Es hatte bereits zwei Auftragskiller beseitigt. Und jetzt hatte es Donohue im Visier.
    Aber mich hat es verschont, dachte Jane. Woher weiß es, dass ich zu den Guten gehöre?
    »Was immer es ist«, sagte Frost, »es ist verdammt geschickt darin, den Überwachungskameras auszuweichen.«
    Die drei Detectives hatten den ganzen Vormittag damit zugebracht, im Besprechungsraum im ersten Stock die Überwachungsvideos aus dem Viertel um Jeffries Point zu sichten, wo Donohue seine Lagerhalle hatte. Gerade lief der Film aus einer von Donohues eigenen Kameras, der den Parkplatz im Abendlicht zeigte. Jane sah ihren eigenen Wagen durch das Tor fahren und neben Donohues Mercedes

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