Grabesstille
Streich, den er mir spielte. Mein Vater scherzte nicht.« Bella schluckte, und ihre Stimme wurde noch leiser. »Also tat ich, wozu er mich aufgefordert hatte. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill und versteckte mich unter der Treppe. Da hörte ich etwas fallen. Und dann einen lauten Knall.«
»Wie viele Schüsse insgesamt?«
»Nur den einen. Nur diesen einen Knall.«
Jane dachte an die Waffe, die in Wu Weimins Hand gefunden worden war, eine Glock mit Gewindelauf. Der Mörder hatte einen Schalldämpfer benutzt, um das Geräusch der ersten acht Schüsse zu unterdrücken. Erst nachdem seine Opfer alle tot waren, schraubte er den Schalldämpfer ab, legte die Waffe in Wu Weimins leblose Hand und feuerte die letzte Kugel ab, um sicherzustellen, dass an der Haut des Toten Schmauchspuren gefunden wurden.
Ein perfektes Verbrechen, dachte Jane. Bis auf die Tatsache, dass es eine Zeugin gab. Ein stummes Mädchen, das verängstigt unter der Kellertreppe kauerte.
»Er ist für mich gestorben«, flüsterte Bella. »Er hätte davonlaufen sollen, aber er wollte mich nicht im Stich lassen. Also blieb er. Er starb direkt vor der Kellertür. Versperrte sie mit seinem Körper. Ich musste in sein Blut treten, um an ihm vorbeizukommen. Wäre ich damals nicht in die Küche gegangen, um mir mein gottverdammtes Eis zu erbetteln, dann wäre mein Vater noch am Leben.«
Jetzt war Jane alles klar. Warum Wu Weimin nicht geflohen war, als er die Chance dazu gehabt hatte. Warum zwei Patronenhülsen auf dem Küchenboden gelegen hatten. War der inszenierte Selbstmord ein Einfall in letzter Minute gewesen, eine Idee, die dem Mörder gekommen war, als er vor der Leiche des Kochs stand? Es war ja so einfach, die Finger des toten Mannes um den Griff zu schlingen und den letzten Schuss abzufeuern. Die Waffe einfach am Tatort zurückzulassen und zur Tür hinauszuspazieren.
»Das hätten Sie der Polizei erzählen sollen«, sagte Jane. »Dann wäre alles anders gekommen.«
»Nein, das wäre es nicht. Wer glaubt denn einem fünfjährigen Mädchen? Ein Mädchen, das das Gesicht des Mörders nie gesehen hatte. Und meine Mutter ließ nicht zu, dass ich auch nur ein Wort sagte. Sie hatte Angst vor der Polizei. Panische Angst.«
»Warum?«
Bellas Kiefermuskeln spannten sich an. »Können Sie sich das nicht denken? Meine Mutter hatte keine Aufenthaltsgenehmigung. Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn die Polizei auf uns aufmerksam geworden wäre? Sie musste an meine Zukunft denken und auch an ihre eigene. Mein Vater war tot. Nichts, was wir taten, hätte das ungeschehen machen können.«
»Und was ist mit der Gerechtigkeit? Spielte die keine Rolle bei ihren Überlegungen?«
»Nicht damals. Nicht an dem Abend – da war ihr einziger Gedanke, uns beide zu beschützen. Wenn der Mörder erfahren hätte, dass es eine Zeugin gab, hätte er vielleicht nach mir gesucht. Deshalb hat sie meine Fußabdrücke aufgewischt. Deshalb haben wir unsere Koffer gepackt und sind zwei Tage später abgereist.«
»Wusste Iris Fang Bescheid?«
»Damals noch nicht. Sie erfuhr es erst Jahre später, als meine Mutter mit Magenkrebs im Sterben lag. Einen Monat vor ihrem Tod schrieb sie an Sifu Fang und sagte ihr die Wahrheit. Sie entschuldigte sich für ihre Feigheit. Aber nach so vielen Jahren hätten wir nichts mehr beweisen, nichts mehr ändern können.«
»Und doch haben Sie es versucht, nicht wahr?«, entgegnete Jane. »Über die letzten sieben Jahre haben entweder Sie oder Iris regelmäßig Todesanzeigen an die Familien der Opfer geschickt. So haben Sie ihre Erinnerung und ihren Schmerz lebendig gehalten. Sie haben sie wissen lassen, dass die Wahrheit nie ans Licht gekommen war.«
»Das war sie auch nicht. Und das sollten sie wissen. Deswegen wurden die Briefe geschickt – sie sollten nicht aufhören, Fragen zu stellen. Nur auf diese Weise werden wir herausfinden, wer der Mörder ist.«
»Sie und Iris haben also versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Sie haben Botschaften an die Angehörigen geschickt, auch an Kevin Donohue, und angedeutet, dass die Wahrheit bald ans Licht kommen wird. Sie haben diese Anzeige im Boston Globe geschaltet in der Hoffnung, dass der Mörder nervös wird und schließlich zum Angriff übergeht. Und wie sah Ihr Plan weiter aus? Wollten Sie ihn uns übergeben? Oder wollten Sie das Recht in die eigenen Hände nehmen?«
Bella lachte. »Wie sollten wir das fertigbringen? Wir sind doch nur Frauen.«
Jetzt war es Jane, die lachte. »Als ob
Weitere Kostenlose Bücher