Grabesstille
ich Sie jemals unterschätzen würde.« Jane griff in ihre Aktentasche und zog eine Übersetzung von Wu Cheng’ens Reise nach dem Westen hervor. »Sie haben doch sicherlich schon vom Affenkönig gehört.«
Bella warf einen flüchtigen Blick auf das Buch. »Chinesische Märchen. Was haben die mit der ganzen Sache zu tun?«
»Ein Kapitel in diesem Buch hat meine Aufmerksamkeit besonders gefesselt. Es ist überschrieben: ›Die Geschichte von Chen O‹. Darin geht es um einen gelehrten jungen Mann, der mit seiner schwangeren Frau zu einer Reise aufbricht. An einem Flussübergang werden sie von Banditen überfallen, und der Ehemann wird getötet. Seine Frau wird entführt. Kennen Sie die Geschichte?«
Bella zuckte mit den Achseln. »Ich habe sie schon mal gehört.«
»Dann wissen Sie auch, wie sie ausgeht. Die Frau bringt in Gefangenschaft ein Kind zur Welt und legt es heimlich auf ein Holzbrett, zusammen mit einem Brief, der ihre unglückliche Lage erklärt. Wie der kleine Moses wird das Kind aufs Wasser gesetzt und vom Fluss davongetragen. Es treibt bis an den Tempel des Goldenen Berges, wo es von frommen Männern gerettet und großgezogen wird. Das Kind wird zum Mann und erfährt die Wahrheit über seine Eltern. Über seinen hingemetzelten Vater und seine Mutter, die gefangen gehalten wird.«
»Hat die Geschichte auch eine Moral?«
»Die Moral findet sich hier, in den Worten, die der junge Mann spricht.« Jane las die Stelle vor. » Wer das Unrecht, das an seinen Eltern begangen wurde, nicht rächt, der ist nicht würdig, ein Mann genannt zu werden. « Sie sah Bella an. »Darum geht es doch in Wirklichkeit, habe ich recht? Sie sind wie der Sohn in dieser Geschichte. Der Mord an Ihrem Vater verfolgt Sie bis heute. Sie sehen es als Ihre heilige Pflicht an, seinen Tod zu rächen.« Jane schob Bella das Buch hin. »Das ist genau das, was der Affenkönig tun würde – für die Gerechtigkeit kämpfen. Die Unschuldigen beschützen. Einen Vater rächen. Mag sein, dass er dabei so einiges an Schaden anrichtet. Mag sein, dass er das ganze Porzellan zerbricht und die Möbel in Brand steckt. Doch am Ende ist der Gerechtigkeit Genüge getan. Er tut stets das Richtige .«
Bella starrte nur schweigend die Abbildung des Affenkriegers an, der seinen Stab schwenkte.
»Ich kann Sie vollkommen verstehen, Bella«, sagte Jane. »Sie sind nicht der Bösewicht in diesem Stück. Sie sind die Tochter eines Opfers; eine Tochter, die erreichen will, was die Polizei nicht hinbekommt: Gerechtigkeit.« Sie senkte die Stimme zu einem verständnisvollen Murmeln. »Das ist es, was Sie und Iris versucht haben. Den Mörder aus der Reserve zu locken. Ihn zu provozieren, bis er zuschlägt.«
War das die Andeutung eines Nickens, was sie da sah? Hatte Bella gerade unabsichtlich die Wahrheit eingestanden?
»Aber der Plan hat nicht so richtig funktioniert«, fuhr Jane fort. »Als der Mörder zuschlug, heuerte er Profikiller an, die ihm die Arbeit abnehmen sollten. Deshalb kennen Sie nach wie vor nicht seine Identität. Und jetzt hat er Iris in seiner Gewalt.«
Bella blickte auf, und Zorn loderte in ihren Augen. » Sie sind schuld, dass es nicht funktioniert hat. Ich hätte dort sein sollen, um auf sie aufzupassen.«
»Sie war der Köder.«
»Sie war bereit, das Risiko einzugehen.«
»Und Sie beide wollten ganz allein der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen?«
»Wer sollte es denn sonst tun? Vielleicht die Polizei?« Bellas Lachen klang verbittert. »Nach so vielen Jahren interessiert das doch keinen mehr.«
»Da irren Sie sich, Bella. Mich interessiert es sehr wohl.«
»Dann lassen Sie mich gehen, damit ich sie suchen kann.«
»Sie wissen ja gar nicht, wo Sie anfangen sollen.«
»Sie vielleicht?«, schleuderte Bella ihr entgegen.
»Wir ermitteln gegen mehrere Verdächtige.«
»Während Sie mich ohne Grund festhalten.«
»Ich habe zwei Mordfälle aufzuklären. Das ist der Grund.«
»Es waren Profikiller. Das haben Sie selbst gesagt.«
»Trotzdem – Mord bleibt Mord.«
»Und für den ersten habe ich ein Alibi. Sie wissen , dass ich die Frau auf dem Dach nicht getötet habe.«
»Wer war es dann?«
Bella sah auf das Buch, und ihre Mundwinkel zuckten. »Vielleicht war es der Affenkönig.«
»Ich spreche von echten Menschen.«
»Sie sagen, ich sei verdächtig, dabei wissen Sie, dass ich die Frau unmöglich getötet haben kann. Da können Sie auch gleich irgendeinem Fabelwesen den Mord anhängen, denn da sind Ihre Chancen, irgendetwas zu
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