Grabesstille
dem Kapuzenshirt, einem langärmeligen T-Shirt, den Leggings, einem Baumwollslip und einem Sport- BH . Vor ihnen lag ein durchtrainierter Körper, schlank, aber muskulös. Maura hatte einmal einen Professor für Rechtsmedizin sagen hören, in all den Jahren, die er schon obduzierte, sei ihm noch nie eine attraktive Leiche untergekommen. Diese Frau hier war der Beweis, dass es Ausnahmen von der Regel gab. Trotz der tiefen Halswunde und der unregelmäßigen Verfärbung an Rücken und Gesäß durch die Totenflecke und trotz der glasigen Augen war sie immer noch eine atemberaubend schöne Frau.
Nachdem die Leiche nunmehr vollständig entkleidet war, verließen Maura und die beiden Detectives den Raum, damit Yoshima die Röntgenaufnahmen machen konnte. Vom Vorraum aus sahen sie zu, wie er eine Bleischürze umlegte und die Filmkassetten positionierte.
»Eine Frau wie diese«, sagte Maura, »muss von irgendjemandem vermisst werden.«
»Sagst du das, weil sie gut aussieht?«, fragte Jane.
»Ich sage das, weil sie unglaublich fit aussieht und ein makelloses Gebiss hat. Und die Leggings, die sie trug, sind von Donna Karan.«
»Wenn Sie eine Frage von einem unbedarften männlichen Wesen gestatten«, meldete sich Tam zu Wort, »bedeutet das, dass sie teuer waren?«
»Ich wette, Dr. Isles kann Ihnen auf Anhieb den genauen Einzelhandelspreis nennen«, antwortete Jane.
»Worum es mir geht«, sagte Maura, »ist, dass wir es nicht mit einer mittellosen Streunerin zu tun haben. Sie hatte eine Menge Bargeld dabei, und sie war mit einer Heckler & Koch bewaffnet, was meines Wissens keine Waffe ist, die man an jeder Straßenecke zu kaufen bekommt.«
»Und sie hatte keine Papiere«, bemerkte Tam.
»Die könnten ihr gestohlen worden sein.«
»Aber ein Dieb, der dreihundert Dollar zurücklässt?« Tam schüttelte den Kopf. »Das wäre doch sehr sonderbar.«
Maura sah, wie Yoshima ihnen durch das Sichtfenster zuwinkte. »Er ist fertig«, sagte sie und stieß die Tür zum Sektionssaal auf.
Als Erstes untersuchte sie den aufgeschlitzten Hals. Wie bei der abgetrennten Hand schien auch diese Wunde das Resultat einer einzigen, entschlossenen Schnittbewegung zu sein. Maura führte ein Lineal in die Wunde ein und sagte: »Sie ist fast acht Zentimeter tief. Die Klinge hat die Luftröhre durchtrennt und ist bis zur Halswirbelsäule durchgedrungen.« Dann legte sie das Lineal längs zur Wunde an. »Breiter als tief – ungefähr zwölf Zentimeter vom einen Ende bis zum anderen. Kein Stich, sondern ein Hieb.« Sie hielt inne und inspizierte die freiliegenden Wundränder. »Seltsam, wie glatt alles ist. Kein Brotmesser-Effekt, keine Sekundärschnitte. Keine Quetschungen, keine Blutergüsse. Es ging alles so schnell, dass das Opfer gar keine Chance hatte, sich zu wehren.« Sie legte die Hand unter den Kopf und beugte ihn vor. »Kann jemand für mich den Schädel in Position halten? Ich möchte die Wundränder zusammenführen.«
Ohne eine Sekunde zu zögern, trat Detective Tam vor und hielt den Kopf behutsam mit seinen behandschuhten Händen. Einen menschlichen Körper kann man noch relativ leicht als unpersönliches Objekt aus Haut, Knochen und Muskeln betrachten; das Gesicht einer Leiche verrät jedoch mehr, als die meisten Polizisten sehen wollen. Johnny Tam aber schrak vor dem Anblick nicht zurück. Er sah direkt in die Augen der toten Frau, als hoffte er, darin Antworten auf seine vielen Fragen zu finden.
»Genau, so passt es«, sagte Maura und schob das Vergrößerungsglas über die Wunde. »Ich kann keine Sägezahnspuren erkennen. Nichts, was auf die Art von Klinge hinweisen würde, die …« Sie hielt inne.
»Was ist?«, fragte Jane.
»Der Winkel ist merkwürdig. Das ist kein gewöhnlicher Kehlschnitt.«
»Ja, die sind ja auch wirklich langweilig«, flachste Jane.
»Überleg mal einen Moment, wie du es anstellen würdest, wenn du jemandem die Kehle durchschneiden wolltest«, sagte Maura. »Um so tief einzudringen, bis auf die Wirbelsäule, müsste man sich dem Opfer von hinten nähern. Man packt es an den Haaren, zieht den Kopf nach hinten und schlitzt den Hals mit einer seitlichen Bewegung von einem Ohr bis zum anderen auf.«
»Die Profikiller-Methode«, bemerkte Tam.
»Der Angriff von hinten macht es leichter, das Opfer zu überwältigen, und der Hals ist der Klinge schutzlos ausgesetzt. Gewöhnlich ist das Resultat eine geschwungene Schnittlinie, was sich beim Annähern der Wundränder deutlich zeigt. Aber dieser Schnitt
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