Grabesstille
Schwarz gekleidet ist.«
»Passt zu allem, heißt es doch immer.«
»Habt ihr Ausweispapiere gefunden?«
»Nichts. Alles, was wir in ihren Taschen gefunden haben, waren dreihundert Dollar und ein Autoschlüssel von einem Honda. Wir suchen gerade die Nachbarschaft nach dem Wagen ab.« Jane schüttelte den Kopf. »Zu schade, dass sie keinen Yugo gefahren hat. So ist es eine Suche nach der Stecknadel in einem gottverdammten Heuhaufen von Hondas.«
Maura ließ die Plastikplane wieder über die klaffende Wunde fallen. »Wo ist die Hand?«
»Schon sichergestellt.«
»Seid ihr sicher, dass sie zu dieser Leiche gehört?«
Jane lachte verblüfft auf. »Wie wahrscheinlich ist es, dass sie jemand anderem gehört?«
»Ich setze nie irgendetwas voraus. Das weißt du.« Sie wandte sich ab.
»Maura?«
Noch einmal drehte sie sich zu Jane um. Sie standen einander im blendenden Sonnenschein gegenüber, und Maura hatte das Gefühl, dass das ganze Boston PD sie sehen und jedes ihrer Worte hören konnte.
»Was diesen Prozess betrifft – ich verstehe deinen Standpunkt, wirklich«, sagte Jane. »Und das weißt du auch.«
»Aber du teilst ihn nicht.«
»Ich verstehe dich trotzdem. Wie du hoffentlich auch verstehst, dass es Leute wie Graff sind, die sich mit der wirklichen Welt herumschlagen müssen. Das sind diejenigen, die den Kopf hinhalten müssen. Wenn es um Gerechtigkeit geht, ist nicht alles so klar und sauber wie bei einem wissenschaftlichen Experiment. Manchmal muss man sich eben die Finger schmutzig machen, da helfen die schönsten Fakten nicht.«
»Ich hätte also lieber lügen sollen?«
»Du sollst nur nicht vergessen, wer die eigentlichen Verbrecher sind.«
»Das steht nicht in meiner Tätigkeitsbeschreibung«, sagte Maura. Sie ging zur Tür und stieg hinunter ins Treppenhaus, erleichtert, den grellen Sonnenstrahlen und den Blicken der Polizisten und Kriminaltechniker entkommen zu sein. Doch als sie im Erdgeschoss aus der Tür trat, sah sie sich wieder Detective Tam gegenüber.
»Ziemlich blutige Angelegenheit da oben, was?«, sagte er.
»Blutiger als die meisten.«
»Und wann ist die Obduktion?«
»Ich habe sie für morgen früh angesetzt.«
»Darf ich dabei sein?«
»Gerne, wenn es Ihnen nicht auf den Magen schlägt.«
»Ich habe schon bei einigen Obduktionen zugeschaut, als ich auf der Polizeischule war. Und ich hab’s geschafft, kein einziges Mal umzukippen.«
Sie blieb stehen und betrachtete ihn einen Moment. Was sie sah, waren ernste, dunkle Augen und scharf geschnittene, attraktive Gesichtszüge, aber keine Feindseligkeit. An einem Morgen, an dem das gesamte Boston PD sie als den Erzfeind zu betrachten schien, war Detective Johnny Tam der einzige Polizist, der sich offensichtlich nicht zum Richter über sie aufschwang.
»Punkt acht Uhr«, sagte sie. »Wir sehen uns dort.«
6
In dieser Nacht schlief Maura schlecht. Nach einer schweren Mahlzeit – Lasagne, hinuntergespült mit drei Gläsern Wein – war sie erschöpft ins Bett gefallen. Ein paar Stunden später wachte sie auf, und wieder einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass der Platz neben ihr leer war. Sie streckte die Hand aus, fühlte das kalte Laken und fragte sich, wie schon in so vielen Nächten in den vergangenen vier Monaten, ob Daniel Brophy in diesem Moment auch wach lag, ob er wie sie von dem Wunsch besessen war, zum Hörer zu greifen und dieses unerträgliche Schweigen zwischen ihnen zu beenden. Oder schlief er tief und fest, ohne der Vergangenheit nachzutrauern, einfach nur erleichtert, dass ihre Affäre endlich beendet war? Zwar hatte sie ihre Unabhängigkeit wieder, doch diese Freiheit hatte ihren Preis. Ein leeres Bett, schlaflose Nächte und immer wieder die Frage, auf die es keine Antwort gab: Geht es mir besser mit ihm oder ohne ihn?
Als sie am nächsten Morgen im Institut ankam, war sie vollkommen übernächtigt, und der viele Kaffee, den sie getrunken hatte, um wach zu werden, schlug ihr auf den Magen. Während sie im Vorraum des Sektionssaals Schutzmaske, Papierhaube und Überschuhe anlegte, sah sie durch das Sichtfenster, dass Jane schon am Tisch stand und auf sie wartete. Gestern waren sie nicht gerade im besten Einvernehmen auseinandergegangen, und Maura fühlte sich noch immer gekränkt durch Janes sarkastische Bemerkung: Bei dir dreht sich alles immer nur um die Fakten, nicht wahr? Ja, die Fakten waren ihr wichtig. Sie standen unveränderlich fest und ließen sich nicht leugnen, selbst wenn dadurch eine
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