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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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auf dem Dach ausgestreckt, um die Sterne zu bewundern. Ihr Haar war von kräftig rotbrauner Farbe und im Nacken zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden. Ihre Haut war blass und makellos, und die ausgeprägten Wangenknochen verliehen ihr ein leicht slawisches Aussehen. Doch es war die Wunde, die Mauras Blick fesselte: ein tiefer Schnitt, der durch Haut, Muskeln und Knorpel gedrungen war und die Luftröhre glatt durchtrennt hatte, sodass die perlweiß schimmernde Oberfläche der Halswirbelsäule freilag. Das Blut war mit so großem Druck aus der durchschnittenen Arterie geschossen, dass die Spritzer sogar die Laken an der Wäscheleine befleckt hatten, die ein ganzes Stück entfernt befestigt war.
    »Die abgeschnittene Hand ist über die Dachkante auf die Straße gefallen«, sagte Jane. »Und die Heckler & Koch auch. Ich vermute, dass wir am Griff ihre Fingerabdrücke finden werden. Und Schmauchspuren an der Hand.«
    Maura riss sich vom Anblick des Halses los und konzentrierte sich auf das rechte Handgelenk, das sauber durchtrennt worden war. Sie versuchte, sich vorzustellen, was für ein Instrument es sein mochte, das so mühelos durch Knorpel und Knochen gedrungen war. Das konnte nur das Ergebnis eines gezielten Hiebs mit einer unglaublich scharfen Waffe sein. Sie malte sich aus, wie die Klinge niederfuhr, wie die Hand abfiel und über die Dachkante rollte. Und wie dieselbe Klinge dann diesen schlanken Hals aufschlitzte.
    Mit einem Schauder richtete sie sich auf und blickte hinunter zu den Polizisten, die am anderen Ende der Knapp Street standen und die Schaulustigen zurückhielten. Die Menschenmenge schien in kürzester Zeit um das Doppelte angewachsen zu sein, und dabei war es noch früh am Tag. Die Neugierigen schliefen nie, und sie schienen das Blut regelrecht zu riechen.
    »Bist du sicher, dass du dir das hier antun willst, Maura?«, fragte Jane leise.
    Maura drehte sich zu ihr um. »Warum denn nicht?«
    »Ich frage mich nur, ob es nicht ein bisschen früh ist, dich wieder zum Tatorteinsatz einzuteilen. Ich weiß, dass du eine harte Woche hinter dir hast, mit dem Prozess und alldem.« Jane hielt inne. »Es sieht nicht gerade gut aus für Graff.«
    »Das sollte es auch nicht. Er hat einen Mann getötet.«
    »Und dieser Mann hatte einen Polizisten getötet. Einen guten Polizisten, der eine Frau und Kinder hinterlässt. Ich muss gestehen, ich hätte mich an seiner Stelle vielleicht auch nicht beherrschen können.«
    »Bitte, Jane – sag mir nicht, dass du Officer Graff in Schutz nimmst.«
    »Ich habe mit Graff gearbeitet, und bei einem gefährlichen Einsatz könnte man sich keinen besseren Mann an seiner Seite wünschen. Du weißt, was mit Polizisten passiert, die im Gefängnis landen, oder?«
    »Ich sehe nicht ein, dass ich mich deswegen verteidigen muss. Ich bekomme schon genug Hassbriefe. Und jetzt fängst du auch noch an.«
    »Ich meine ja nur – die Nerven liegen zurzeit ziemlich blank. Wir alle respektieren Officer Graff, und wir können nachvollziehen, dass er an dem Abend die Beherrschung verloren hat. Ein Polizistenmörder ist tot, und vielleicht ist ja auf diese Art und Weise nur der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen worden.«
    »Es ist nicht meine Aufgabe, über Recht und Unrecht zu urteilen. Ich lege nur die Fakten dar.«
    Janes Lachen klang sarkastisch. »Jaja, bei dir dreht sich alles immer nur um die Fakten, nicht wahr?«
    Maura drehte sich um und blickte zu den Kriminaltechnikern hinüber, die das Dach nach Spuren absuchten. Lass es an dir abprallen und konzentriere dich auf deinen Job. Du bist hier, um für diese tote Frau zu sprechen und für niemanden sonst. »Was hat sie auf diesem Dach gemacht?«, fragte sie.
    Jane sah auf die Leiche hinunter. »Keine Ahnung.«
    »Wissen wir, wie sie sich Zugang verschafft hat?«
    »Sie könnte über die Feuertreppe oder durch irgendeines der Treppenhäuser gekommen sein. Wenn man einmal auf einem Dach ist, kann man von dort alle anderen in diesem Block erreichen, von der Harrison Avenue bis zur Knapp Street. Sie könnte durch irgendeines dieser Häuser gekommen sein, aber sie könnte genauso gut von einem Hubschrauber abgesetzt worden sein. Von den Anwohnern, die wir befragt haben, erinnert sich niemand, sie gestern Abend gesehen zu haben. Und wir wissen, dass es gestern Abend passiert ist. Als wir sie fanden, hatte die Leichenstarre gerade eingesetzt.«
    Maura betrachtete die Kleidung des Opfers und runzelte die Stirn. »Ist doch seltsam, dass sie ganz in

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