Grabesstille
auf dem Armaturenbrett ist um 20.15 Uhr am Mittwochabend abgestempelt«, sagte Frost. »Ich habe mir das Überwachungsvideo angeschaut, und es zeigt, wie der Honda um diese Uhrzeit ins Parkhaus fährt. Fünf Minuten später kommt eine Frau zu Fuß heraus. Sie hat die Kapuze auf, sodass die Kamera ihr Gesicht nicht erfasst, aber es sieht aus, als ob es unsere Lady in Schwarz ist. Der Wagen hat seitdem das Parkhaus nicht verlassen.«
Während Frost Bericht erstattete, ging Jane langsam um den Honda herum. Es war ein drei Jahre altes Modell ohne größere Dellen oder Kratzer. Die Reifen waren in gutem Zustand. Sie hatten die Hecktür hochgeklappt, damit Jane den Innenraum inspizieren konnte.
»Die Nummernschilder wurden vor fünf Tagen in Springfield als gestohlen gemeldet«, sagte Frost. »Das Fahrzeug selbst wurde vor einer Woche ebenfalls in Springfield gestohlen.«
Jane spähte in den Kofferraum, der bis auf den Ersatzreifen leer war. »Mann, der ist ja viel sauberer als meiner.«
Frost lachte. »Das trifft auf sehr viele Autos zu.«
»Sagt unser Zwangsneurotiker vom Dienst.«
»Sieht aus, als wäre er vor Kurzem bei der Inspektion gewesen. Im Handschuhfach liegen die Papiere und die Versicherungskarte des rechtmäßigen Besitzers. Und ich habe noch etwas auf dem Vordersitz gefunden, das wird dir gefallen.« Er zog Handschuhe an und öffnete die Fahrertür. »Ein Navi.«
»Wieso findest du immer die richtig interessanten Sachen?«
»Ich schätze, das Gerät ist nagelneu; sie hatte nämlich erst zwei Adressen eingegeben. Beide in Boston.«
»Wo?«
»Die erste ist ein Wohnhaus in Roxbury Crossing, das einem gewissen Louis Ingersoll gehört.«
Jane starrte ihn verblüfft an. »Doch nicht etwa Detective a. D. Lou Ingersoll vom Morddezernat?«
»Genau der. Es ist die Adresse, unter der er beim Boston PD registriert ist.«
»Wie lange ist er schon im Ruhestand? Sechzehn, siebzehn Jahre?«
»Sechzehn. Ich habe vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Ich habe dann seine Tochter angerufen, und sie sagt, Lou sei diese Woche irgendwo im Norden auf Angelurlaub. Vielleicht hat er da oben keinen Handyempfang. Oder er hat sein Mobilteil ausgeschaltet, weil er nicht gestört werden will.«
»Und die zweite Adresse in dem Navi?«
»Das ist eine Geschäftsadresse hier in Chinatown. Ein Laden, der sich ›Dragon and Stars Martial Arts Academy‹ nennt – eine Schule für chinesische Kampfkunst. Laut Ansage auf dem AB haben sie ab zwölf Uhr mittags geöffnet.« Frost sah auf seine Uhr. »Also seit zehn Minuten.«
7
Die Dragon and Stars Academy befand sich im ersten Stock eines heruntergekommenen Backsteinbaus in der Harrison Avenue. Als Jane und Frost die enge Treppe hinaufstiegen, vernahmen sie von oben rhythmische Kommandos, Ächzen und Stampfen, und die Luft roch nach muffigem Schweiß wie in einer Umkleidekabine. Im Studio selbst übten ein Dutzend Schüler in schwarzen, pyjamaartigen Kostümen so konzentriert, dass keiner das Eintreten der beiden Detectives zu bemerken schien. Bis auf ein verblasstes Kampfkunst-Poster war der Raum vollkommen leer und schmucklos, mit kahlen Wänden und verschrammten Holzdielen. Eine Weile standen Jane und Frost unbeachtet in der Nähe der Tür und sahen den Kursteilnehmern bei ihren Sprüngen und Tritten zu.
Plötzlich löste sich eine junge Asiatin aus der Formation und wies die Schüler an: »Selbstständig weitermachen!« Dann kam sie quer durch den Raum auf die beiden Besucher zu. Sie war schlank wie eine Tänzerin, auf ihrer Haut schimmerte ein Schweißfilm, doch trotz der Anstrengung war sie offenbar kaum außer Atem. »Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie.
»Wir sind vom Boston PD . Ich bin Detective Jane Rizzoli, und das ist Detective Frost. Wir möchten gerne den Inhaber dieser Schule sprechen.«
»Können Sie sich ausweisen?« Die Frage war sehr direkt und ganz und gar nicht das, was Jane von dieser jungen Frau erwartet hätte, die aussah, als wäre sie kaum mit der Highschool fertig. Während das Mädchen Janes Ausweis studierte, betrachtete Jane ihr Gegenüber. Vielleicht doch nicht so jung, wie sie auf den ersten Blick wirkte, stellte Jane fest. Anfang zwanzig, Amerikanerin chinesischer Herkunft, nach ihrer Aussprache zu urteilen, mit einem tätowierten Tiger auf dem linken Unterarm. Mit ihrer Igelfrisur und ihrem trotzigen Blick wirkte sie wie eine asiatische Version eines Goth-Mädchens – klein, aber gefährlich.
Die junge Frau gab Jane den Ausweis
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