Grabesstille
darauf, dass ich diese tote Frau kennen könnte?«
Es war unmöglich, der Frage länger auszuweichen. Jane antwortete: »Wir haben heute Morgen den Wagen des Opfers gefunden; er stand in einem Parkhaus in Chinatown. Darin lag ein Navigationsgerät, und eine der gespeicherten Adressen war Ihre.«
Iris runzelte die Stirn. »Sie meinen diese Adresse hier? Mein Studio?«
»Das war das Ziel des Opfers. Wissen Sie, warum?«
»Nein.« Die Antwort kam ohne Zögern.
»Dürfte ich Sie fragen, wo Sie am Mittwochabend waren, Mrs. Fang?«
Iris hielt inne, und ihre Augen verengten sich, als sie Jane anstarrte. »Ich habe einen Abendkurs geleitet. Danach bin ich nach Hause gegangen.«
»Um welche Zeit haben Sie das Studio verlassen?«
»Gegen zehn. Um Viertel nach zehn war ich zu Hause. Ich wohne in der Hudson Street in Tai Tung Village, am Rand von Chinatown. Das sind zu Fuß nur ein paar Minuten.«
»Ist jemand mit Ihnen gegangen?«
»Ich war allein.«
»Und wohnen Sie auch allein?«
»Ich habe keine Familie, Detective. Mein Mann lebt nicht mehr, und meine Tochter …« Sie stockte. »Ja, ich wohne allein«, sagte sie und hob das Kinn, wie um jegliche Mitleidsbekundung abzuwehren, die ihre Antwort hervorrufen könnte. Und doch sahen sie etwas in ihren Augen schimmern – Tränen, die sie rasch bannte, indem sie einige Male blinzelte. So unbesiegbar sie sich auch geben mochte, dies war eine Frau, die ihren schmerzlichen Verlust immer noch nicht verwunden hatte.
Nebenan war der Kurs offenbar zu Ende, und sie hörten trampelnde Schritte auf der Treppe. Iris warf einen Blick auf die Uhr an der Wand und sagte: »Mein nächster Schüler wird bald hier sein. Sind wir fertig?«
»Nicht ganz«, erwiderte Jane. »Eine letzte Frage noch. Im Navigationsgerät des Opfers war noch eine andere Adresse einprogrammiert. Es handelt sich um eine Privatwohnung hier in Boston. Kennen Sie einen ehemaligen Detective des Boston PD namens Louis Ingersoll?«
Augenblicklich wich alle Farbe aus den Wangen der Frau. Sie saß stocksteif da, ihre Züge wie versteinert.
»Mrs. Fang, geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Frost. Er fasste sie an der Schulter, worauf sie zurückzuckte, als hätte er sie mit seiner Berührung verbrannt.
Jane sagte ruhig: »Sie kennen den Namen also.«
Iris schluckte. »Ich habe Detective Ingersoll vor neunzehn Jahren kennengelernt. Als mein Mann starb. Als er …« Ihre Stimme versagte.
Jane und Frost wechselten einen Blick. Ingersoll war beim Morddezernat.
»Mrs. Fang«, sagte Frost. Diesmal wich sie nicht zurück, als er sie berührte, und ließ zu, dass er ihr die Hand auf die Schulter legte. »Was ist mit Ihrem Mann passiert?«
Iris senkte den Kopf, und ihre Antwort kam im Flüsterton. »Er wurde erschossen. Im Restaurant Red Phoenix.«
8
Vom Fenster meines Studios kann ich sehen, wie die beiden Detectives das Gebäude verlassen und unten auf der Straße innehalten. Sie schauen herauf, und obwohl mein Instinkt mir dringend rät, mich zurückzuziehen, bleibe ich trotzig stehen, wo ich bin, und setze mich ihren Blicken aus. Sie sollen ruhig wissen, dass ich sie dabei beobachte, wie sie mich beobachten. Ich will mich nicht verstecken, weder vor Freund noch Feind, und so starre ich durch die Scheibe auf sie hinunter, und mein Blick heftet sich auf die Frau. Detective Jane Rizzoli steht auf der Visitenkarte, die sie mir dagelassen hat. Auf den ersten Blick wirkte sie so gar nicht wie eine ebenbürtige Gegnerin, eher wie eine durchschnittliche, hart arbeitende Frau in grauem Hosenanzug und zweckmäßigen Schuhen, ihr Haar ein Gewirr von dunklen Locken. Aber ihre Augen verraten weit mehr. Sie forschen, beobachten und taxieren. Sie hat die Augen einer Jägerin, und sie versucht herauszufinden, ob ich ihre Beute bin.
Ich bleibe furchtlos stehen, wo ich ihren Blicken und den Blicken der ganzen Welt ausgesetzt bin. Sie können mich studieren, solange sie wollen, aber sie werden nichts weiter sehen als eine stille und bescheidene Frau, in deren Haare sich erste schneeweiße Vorboten des kommenden Alters eingeschlichen haben. Gewiss sind es bis dahin noch viele Jahre, doch heute spüre ich deutlich, wie es unerbittlich näher rückt. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt zu vollenden, was ich begonnen habe. Und mit dem Besuch dieser zwei Detectives hat der Weg dorthin eine beunruhigende Wendung genommen, die ich nicht vorhergesehen hatte.
Unten auf der Straße fahren die beiden Detectives endlich los. Gehen
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