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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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war aus Iris’ Gesicht verschwunden, als sie ihre Besucher mit kühler Miene taxierte. Ihr Blick blieb an Jane hängen, als ob sie erkannt hätte, wer von den beiden das Sagen hatte. »Warum bekomme ich in meinem Studio Besuch von der Polizei?«
    »Wir sind vom Morddezernat des Boston Police Department«, erklärte Jane. »Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen zu einem Vorfall, der sich gestern Abend in Chinatown ereignet hat.«
    »Ich nehme an, es geht um die tote Frau auf dem Dach?«
    »Dann wissen Sie also bereits davon.«
    »Alle reden darüber. Dies ist eine kleine Gemeinde, und wie in jedem chinesischen Dorf gibt es hier Klatschbasen und Wichtigtuer. Sie sagen, man habe ihr die Kehle aufgeschlitzt und ihre abgehackte Hand vom Dach geworfen. Und sie sei bewaffnet gewesen.«
    Wer immer sie waren, dachte Jane, sie wussten eindeutig zu viel.
    »Sind diese Geschichten wahr?«, fragte Iris.
    »Dazu können wir nichts sagen«, erwiderte Jane.
    »Aber deswegen sind Sie doch hier, oder? Um darüber zu reden?«, entgegnete Iris gelassen.
    Sie sahen einander eine Weile schweigend an, und Jane kam plötzlich die Erkenntnis: Ich bin nicht die Einzige, die hier auf Informationen aus ist. »Wir haben ein Foto, das wir Ihnen gerne zeigen würden«, sagte sie.
    »Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb Sie sich an mich wenden?«
    »Wir sprechen mit einer Reihe von Personen hier im Viertel.«
    »Aber von einem Foto habe ich bis jetzt noch nichts gehört. Und ich bin sicher, dass ich so etwas mitbekommen hätte.«
    »Zuerst müssen wir Ihnen das Bild zeigen. Später können wir dann über die Gründe sprechen.« Jane sah Frost an.
    »Es tut mir leid, dass wir Ihnen das zumuten müssen, Ma’am«, sagte er. »Es ist sicherlich kein angenehmer Anblick. Vielleicht möchten Sie sich zuerst einmal hinsetzen?«
    Sein ruhiger, respektvoller Ton schien das Eis im Blick der Frau ein wenig zum Schmelzen zu bringen, und sie nickte. »Ich fühle mich heute sehr schwach. Vielleicht setze ich mich wirklich besser hin, danke.«
    Rasch rückte Frost ihr einen Stuhl zurecht, und Iris ließ sich darauf nieder, mit einem erleichterten Seufzer, der verriet, wie sehr sie diese Geste zu schätzen wusste. Dann erst holte Frost das Digitalfoto hervor, das Maura ihnen aus der Rechtsmedizin gemailt hatte. Obwohl die Wunde des Opfers diskret mit einem Tuch verhüllt war, ließen die Blässe des Gesichts, die erschlafften Kiefermuskeln und die halb geöffneten Augen keinen Zweifel daran, dass es sich um das Foto einer Toten handelte.
    Iris starrte die Aufnahme längere Zeit schweigend an, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Ma’am?«, sagte Frost. »Kennen Sie die Frau?«
    »Sie ist wunderschön, nicht wahr?«, entgegnete Iris und blickte auf. »Aber ich kenne sie nicht.«
    »Sind Sie sicher, dass Sie sie noch nie gesehen haben?«
    »Ich lebe seit fünfunddreißig Jahren in Chinatown, seit ich mit meinem Ehemann aus Taiwan gekommen bin. Wenn diese Frau hier im Viertel zu Hause wäre, wüsste ich es bestimmt.« Sie sah Jane an. »War das alles, was Sie mich fragen wollten?«
    Jane antwortete nicht sofort. Sie hatte die Feuertreppe bemerkt, die direkt am Fenster vorbeiführte. Von diesem Zimmer aus, dachte sie, könnte man aufs Dach gelangen. Und von dort auf alle Dächer in diesem Block – auch auf das, auf dem die Frau in Schwarz gestorben war. Sie wandte sich Iris zu. »Wie viele Angestellte arbeiten hier?«
    »Ich leite die meisten Kurse selbst.«
    »Und was ist mit der jungen Frau, die uns zu Ihnen gebracht hat?« Jane las den Namen aus ihrem Notizbuch ab. »Bella Li.«
    »Bella ist seit einem knappen Jahr bei mir. Sie übernimmt einen Teil der Kurse und wird von ihren Schülern direkt bezahlt.«
    »Sie erwähnten Ihren Ehemann. Arbeitet Mr. Fang auch hier?«
    Die Frau blinzelte ein paar Mal und wandte den Blick ab. »Mein Mann ist tot«, sagte sie leise. »James ist vor neunzehn Jahren gestorben.«
    »Tut mir leid, das zu hören«, sagte Frost mit sanfter Stimme, und es war offenkundig, dass er es ernst meinte.
    Einen Moment lang war es ganz still, bis auf das Klappern der Holzschwerter im Raum nebenan, wo die Schüler trainierten.
    »Ich bin die alleinige Inhaberin dieser Schule«, sagte Iris. »Wenn Sie also irgendwelche Fragen haben, sollten Sie sich an mich wenden.« Sie richtete sich auf. Offenbar hatte sie sich wieder gefasst, und sie fixierte Jane, als wüsste sie genau, wer für sie die größere Herausforderung darstellte. »Wie kommen Sie

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