Grabesstille
wieder auf die Jagd, folgen der Fährte, wohin sie auch führen mag.
»Sifu, gibt es ein Problem?«
»Ich weiß nicht.« Ich drehe mich zu Bella um und staune wieder einmal, wie makellos und jung ihre Haut ist, selbst im harten Licht, das durchs Fenster fällt. Die einzige Unvollkommenheit ist die Narbe an ihrem Kinn, die Erinnerung an einen Sekundenbruchteil der Unaufmerksamkeit beim Schwerttraining. Es war ein Fehler, den sie nur ein Mal und nie wieder gemacht hat. Kerzengerade, furchtlos und selbstbewusst steht sie vor mir. Vielleicht zu selbstbewusst – auf dem Schlachtfeld kann Arroganz tödliche Folgen haben.
»Was wollten die hier?«, fragt sie.
»Sie sind von der Kriminalpolizei. Es ist ihr Job, Fragen zu stellen.«
»Hast du noch mehr über diese Frau erfahren? Wer sie war, wer sie geschickt hat?«
»Nein.« Ich schaue wieder aus dem Fenster, auf die Passanten, die die Harrison Avenue entlanggehen. »Aber wer immer sie war, sie wusste, wie sie mich finden konnte.«
»Sie wird nicht die Letzte sein«, sagt Bella düster.
Es ist nicht nötig, dass sie mich warnt; wir wissen beide, dass das Streichholz entfacht worden ist und die Zündschnur brennt.
In meinem Büro sinke ich auf meinen Stuhl und starre das gerahmte Foto an, das auf meinem Schreibtisch steht. Es ist ein Foto, das ich eigentlich gar nicht mehr ansehen muss, so tief ist das Bild in mein Gedächtnis eingebrannt.
Ich nehme es in die Hand und lächle die Gesichter an. Ich weiß genau, an welchem Tag das Foto aufgenommen wurde, denn es war der Geburtstag meiner Tochter. Mütter mögen vieles vergessen, aber niemals die Geburtstage ihrer Kinder. Auf dem Foto ist Laura vierzehn. Sie und ich stehen vor der Boston Symphony Hall, und wir sind gekommen, um Joshua Bell zu hören. Einen ganzen Monat nach diesem Konzert hat Laura von nichts anderem geredet – Joshua Bell hier, Joshua Bell da. Sieht er nicht süß aus, Mami? Findest du nicht, dass seine Geige geradezu singt? Auf dem Foto leuchten Lauras Augen noch sichtlich vor Begeisterung über den Auftritt ihres Idols.
James war an diesem Abend auch dabei, aber er ist nicht auf dem Foto; er ist auf keinem unserer Fotos zu sehen, weil immer er es war, der die Kamera hielt. Wie sehr ich mir wünsche, dass ich ihm nur ein Mal die Kamera abgenommen und einen Schnappschuss von seinem liebenswürdigen, eulenhaften Gesicht gemacht hätte. Aber ich bin nie auf die Idee gekommen, dass mir diese kostbare Gelegenheit so plötzlich und unwiderruflich genommen würde. Dass sein Lächeln nur in meiner Erinnerung überleben würde, wo er für immer siebenunddreißig sein wird. Für immer mein junger Ehemann.
Eine Träne tropft auf den Rahmen, und ich stelle das Foto auf den Schreibtisch zurück.
Ich habe sie beide verloren. Zuerst wurde mir meine Tochter entrissen, dann mein Mann.
Wie kann ein Mensch weiterleben, wenn ihm das Herz aus der Brust geschnitten wurde, und nicht nur ein Mal, sondern gleich zwei Mal? Und doch bin ich hier, ich lebe noch, atme noch.
Bis jetzt jedenfalls.
9
»Ich erinnere mich sehr gut an das Red-Phoenix-Massaker. Es war ein klassischer Fall von Amok.« Der Kriminalpsychologe Dr. Lawrence Zucker lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Jane und Frost über seinen Schreibtisch hinweg an, mit jenem durchdringenden Blick, der Jane schon immer nervös gemacht hatte. Obwohl Frost direkt neben ihr saß, schien Zucker nur sie anzuschauen, bis sie das Gefühl hatte, dass er direkt in ihren Kopf hineinsah und dort nach Geheimnissen forschte, als ob sie das einzige Objekt seiner Neugier wäre. Zucker kannte bereits zu viele ihrer Geheimnisse. Er hatte ihren schwierigen Beginn beim Morddezernat miterlebt, als sie, die einzige Frau unter zwölf Detectives, noch um Anerkennung kämpfen musste. Er wusste um die Albträume, die sie nach der Serie von ganz besonders grausamen Morden eines Täters verfolgt hatten, den sie den Chirurgen nannten. Und er wusste von den Narben an ihren Händen, die sie immer daran erinnern würden, wie ebenjener Chirurg sie mit zwei Skalpellen durchbohrt hatte. Mit nur einem Blick überwand Zucker ihre sämtlichen Abwehrmechanismen und sah die unverheilten Wunden, die sich dahinter verbargen. Er gab ihr das Gefühl, verletzlich zu sein, und das ärgerte sie.
So konzentrierte sie sich stattdessen auf die Mappe, die aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag. Sie enthielt sein neunzehn Jahre altes Gutachten zu dem Vorfall im Red Phoenix, einschließlich eines
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