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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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psychologischen Profils von Wu Weimin, dem chinesischen Koch, der die Schüsse abgefeuert hatte. Sie wusste, dass Zucker außerordentlich gründlich arbeitete und seine Analysen bisweilen Dutzende von Seiten umfassten, und sie wunderte sich daher, wie dünn die Mappe war.
    »Das ist Ihr ganzes Gutachten?«, fragte sie.
    »Es ist alles, was ich zu den Ermittlungen beigetragen habe. Die Mappe enthält die postume psychologische Analyse von Mr. Wu sowie die vier Gutachten zu den Opfern. In der Akte des Boston PD müssten Kopien von allem sein. Detective Ingersoll hat damals die Ermittlungen geleitet. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
    »Er ist diese Woche verreist, und wir haben ihn noch nicht erreichen können«, erklärte Frost. »Seine Tochter sagt, er sei irgendwo im Norden in einem Anglercamp, wo es kein Handynetz gibt.«
    Zucker seufzte. »Der Ruhestand muss ein paradiesischer Zustand sein. Es kommt mir vor, als wäre es eine halbe Ewigkeit her, dass er den Dienst quittiert hat. Wie alt ist er jetzt – doch sicher über siebzig?«
    »Was ungefähr hundertzehn Polizistenjahren entspricht«, bemerkte Frost und lachte.
    Jane brachte sie wieder zum Thema zurück. »Der andere Detective, der mit der Sache befasst war, war Charlie Staines, aber er lebt nicht mehr. Deswegen haben wir gehofft, dass Sie uns mit Ihrem Wissen über den Fall weiterhelfen können.«
    Zucker nickte. »Der äußere Ablauf des Geschehens erschloss sich bereits aus dem, was man am Tatort vorfand. Wir wissen, dass der Koch, ein chinesischer Einwanderer namens Wu Weimin, den Speisesaal betrat und dort insgesamt vier Menschen erschoss. Der erste Tote war ein Mann namens Joey Gilmore, der nur gekommen war, um eine Bestellung abzuholen. Opfer Nummer zwei war der Kellner, James Fang, dem Vernehmen nach ein guter Freund des Kochs. Opfer Nummer drei und vier waren die Mallorys, ein Ehepaar, das an einem der Tische saß. Anschließend ging der Koch in die Küche, setzte sich die Pistole an die Schläfe und drückte ab. Es war ein Fall von Amok, gefolgt von Suizid.«
    »Das klingt ja fast so, als wäre ›Amok‹ ein klinischer Begriff«, sagte Frost.
    »So ist es in der Tat. Es ist ein malaiisches Wort für ein Phänomen, das James Cook Ende des achtzehnten Jahrhunderts beschrieb, als er unter den Malayen lebte. Er schilderte Ausbrüche von Gewalt, bei denen ein Einzelner – fast immer männlichen Geschlechts – in eine Art Blutrausch verfiel. Der Betroffene tötete dann jeden, dessen er habhaft werden konnte, bis er selbst überwältigt wurde. Captain Cook glaubte, dass dieses Verhalten charakteristisch für südostasiatische Völker sei, doch inzwischen ist klar, dass es auf der ganzen Welt und in jeder Kultur vorkommt. Die Psychiatrie ordnet es unter der Rubrik ›Dissoziative Störungen‹ oder ›Störungen der Impulskontrolle‹ ein.«
    Jane sah Frost an. »Umgangssprachlich auch als ›Ausrasten‹ bekannt. Besonders beliebt unter Schülern.«
    Zucker warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Die sogenannten ›School Shootings‹ sind nur ein Sonderfall. Das Phänomen ist in allen Schichten verbreitet. Die Täter sind Angestellte oder Arbeiter, sie sind jung oder alt, verheiratet oder ledig. Aber es sind fast immer Männer.«
    »Und was haben diese Täter ansonsten gemeinsam?«, fragte Frost.
    »Das können Sie sich wahrscheinlich denken. Sie sind oft von ihrer sozialen Umgebung isoliert. Sie haben Probleme mit Beziehungen. Meist löst dann irgendeine Krise die Tat aus – der Verlust des Arbeitsplatzes oder das Zerbrechen einer Ehe. Und schließlich müssen die betreffenden Personen auch Zugang zu Waffen haben.«
    Jane blätterte in ihrer Kopie der Akte des Boston PD . »Es war eine Glock 17 mit Gewindelauf, die ein Jahr zuvor in Georgia als gestohlen gemeldet worden war.« Sie blickte auf. »Warum sollte ein Einwanderer mit dem bescheidenen Einkommen eines Kochs eine Glock kaufen?«
    »Vielleicht, um sich zu schützen? Weil er sich bedroht fühlte?«
    »Sie sind der Psychologe, Dr. Zucker. Haben Sie keine Antwort parat?«
    Zucker presste die Lippen aufeinander. »Nein. Ich bin kein Hellseher. Und ich hatte keine Gelegenheit, die Person zu befragen, die ihm am nächsten stand – seine Frau. Als das Boston PD mich als Berater einschaltete, hatte sie bereits die Stadt verlassen, und wir wussten nicht, wie wir an sie herankommen sollten. Mein psychologisches Profil von Mr. Wu basiert auf Befragungen anderer Personen, die ihn gekannt hatten.

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