Grabesstille
zu gehören?«
»Ich weiß nicht. Kennen Sie das denn auch?«
»Schauen Sie sich doch mal hier drin um. Wie viele weibliche Detectives vom Morddezernat sehen Sie? Es gibt genau eine, und die sitzt gerade vor Ihnen. Ich weiß, wie es ist, wenn die Kerle mich nicht auf dem Laufenden halten, nur weil ich eine Frau bin und sie meinen, ich könnte den Job niemals so gut erledigen wie sie. Sie müssen einfach lernen, mit den ganzen Idioten und dem dummen Geschwätz zu leben, denn von beiden gibt es einen endlosen Vorrat.«
»Das heißt noch lange nicht, dass wir aufhören sollten, sie deswegen zur Rede zu stellen.«
»Als ob das einen Unterschied macht.«
»Bei Ihnen muss es einen Unterschied gemacht haben. Denn Sie werden jetzt von denen akzeptiert.«
Sie überlegte, ob das wirklich stimmte; dachte daran zurück, wie es ihr ergangen war, als sie noch ganz neu beim Morddezernat war und sich mit dem anzüglichen Grinsen, den Tamponscherzen und den bewussten Zurücksetzungen herumärgern musste. Ja, es war besser geworden, aber es war ein harter Kampf gewesen, und es hatte Jahre gedauert.
»Aber Sie erreichen nichts, indem Sie sich beschweren«, sagte sie. »Sondern nur, indem Sie besser sind als alle anderen.« Sie hielt inne. »Wie ich höre, haben Sie die Detective-Prüfung gleich beim ersten Mal mit Bravour bestanden.«
Er nickte knapp. »Mit Bestnote, um genau zu sein.«
»Und Sie sind wie alt? Fünfundzwanzig?«
»Sechsundzwanzig.«
»Das macht’s natürlich nicht leichter für Sie, das wissen Sie schon?«
»Was – die Tatsache, dass man mich als einen von diesen asiatischen Strebern betrachtet?«
»Nein, die Tatsache, dass Sie noch nicht ganz trocken hinter den Ohren sind.«
»Na toll. Noch ein Grund, mich nicht ernst zu nehmen.«
»Die Sache ist die: Es gibt ein Dutzend verschiedene Gründe, sich benachteiligt zu fühlen. Manche sind real, andere existieren nur in Ihrem Kopf. Finden Sie sich einfach damit ab, und machen Sie Ihren Job.«
»Wenn Sie dafür versuchen, nicht zu vergessen, dass ich zum Team gehöre. Lassen Sie mich doch etwas von der Kleinarbeit im Red-Phoenix-Fall übernehmen; ich bin schließlich schon in der Materie drin. Ich kann Anrufe erledigen oder mit den Familien der Opfer sprechen.«
»Frost hat schon gesagt, dass er noch einmal mit Mrs. Fang reden will.«
»Dann übernehme ich eben die anderen Familien.«
Sie nickte. »Gut. Und jetzt erzählen Sie mir, wie weit Sie in dem Fall schon gekommen sind.«
»Zum ersten Mal habe ich mich im Februar damit befasst, als ich District A-1 zugeteilt wurde und hörte, wie einige Bewohner von Chinatown sich über den Fall unterhielten. Ich erinnerte mich, als kleiner Junge damals in New York City davon gehört zu haben.«
»Sie haben in New York davon gehört?«
»Wenn es eine so sensationelle Geschichte ist und Chinesen daran beteiligt sind, dann können Sie davon ausgehen, dass die chinesischstämmige Bevölkerung im ganzen Land darüber redet. Sogar in New York haben wir über das Red Phoenix gesprochen. Ich weiß noch, wie meine Großmutter zu mir sagte, was für eine Schande es sei, dass der Mörder einer von uns war. Sie meinte, das werfe ein schlechtes Licht auf alle Menschen chinesischer Herkunft. Es lasse uns alle wie Kriminelle aussehen.«
»Meine Güte. Klingt ja schwer nach Kollektivschuld.«
»Ja, darin sind wir besonders gut. Großmutter ist immer ausgerastet, wenn ich mal mit zerrissenen Jeans aus dem Haus gehen wollte, weil sie meinte, dann würden die Leute denken, alle Chinesen wären Gammler. Ich wuchs mit der Bürde auf, eine ganze Bevölkerungsgruppe repräsentieren zu müssen, sobald ich vor die Tür trat. Ja, und so kam es, dass ich schon ein gewisses Interesse am Red Phoenix mitbrachte. Und als dann im März die Anzeige im Boston Globe erschien, wurde ich natürlich hellhörig, und ich las die Akte noch ein zweites Mal durch.«
»Welche Anzeige?«
»Sie erschien am Dreißigsten, dem Jahrestag des Massakers. Eine Viertelseite groß, im Lokalteil.«
»Ich habe sie nicht gesehen. Was stand darin?«
»Es war ein Foto des Kochs, Wu Weimin, und dazu das Wort Unschuldig in Fettdruck.« Er starrte über die Schreibtische des Morddezernats hinweg. »Als ich die Anzeige sah, wollte ich, dass es wahr ist. Ich wollte, dass Wu Weimin unschuldig ist, nur damit wir diesen schwarzen Fleck auf unserer Weste tilgen können.«
»Sie glauben aber nicht wirklich, dass er unschuldig war, oder?«
Er sah sie an. »Ich weiß es
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