Grabesstille
zusammen.
Bei diesen Leuten ging es ja geradezu absurd gesittet zu, dachte Jane. Patricks Frau verlässt ihn wegen eines anderen Mannes, und dann verbringen sie alle Weihnachten zusammen. Es klang zu schön, um wahr zu sein, doch die Information stammte von Arthur Mallorys eigenem Sohn Mark, der es ja schließlich wissen musste. Eine Patchworkfamilie wie aus dem Bilderbuch, ohne Konflikte, alles eitel Sonnenschein. Unmöglich war es wohl nicht, wenngleich Jane so etwas in ihrer eigenen Familie für vollkommen ausgeschlossen hielt. Sie versuchte, sich eine Familienfeier im Hause Rizzoli vorzustellen, an der ihr Vater, ihre Mutter, die Tussi ihres Vaters und der neue Freund ihrer Mutter, Vince Korsak, teilnahmen. Wenn das kein Rezept für ein Gemetzel war – und zwar eines, bei dem niemand voraussagen könnte, wer am Ende übrig blieb.
Aber die Mallorys und die Dions hatten es irgendwie hinbekommen. Vielleicht hatten sie es Charlotte zuliebe getan, die erst zwölf Jahre alt gewesen war, als ihre Eltern sich hatten scheiden lassen. Wie die meisten Scheidungskinder war sie wohl zwischen den beiden Elternteilen gependelt, das arme kleine reiche Mädchen, hin- und hergerissen zwischen dem Haus ihrer Mutter Dina und dem ihres Vaters Patrick.
Jane nahm sich die letzte Seite der Akte vor und fand eine angehängte Notiz:
Charlotte Dion, die Tochter von Dina Mallory, wurde am 24. April als vermisst gemeldet. Zuletzt gesehen in der Nähe der Faneuil Hall während eines Schulausflugs. Laut Detective Hank Buckholz weisen die Umstände des Verschwindens auf eine Entführung hin. Die Ermittlungen dauern an.
Der Anhang war auf den 28. April datiert und von Detective Ingersoll unterschrieben.
Zwei vermisste Mädchen, Laura Fang und Charlotte Dion. Beide Töchter von Opfern des Massakers im Red Phoenix, und doch gab es in dem Bericht keinen Hinweis darauf, dass es mehr gewesen sein könnte als ein tragischer Zufall. Es war genau so, wie Dr. Zucker gesagt hatte. Manchmal gibt es einfach kein Muster und keinen Plan, sondern nur die blinde Grausamkeit des Schicksals, das nun einmal keine Strichliste über das Maß des Leidens führt, das jedem Einzelnen zuzumuten ist.
»Sie hätten doch einfach nur mich fragen müssen, Rizzoli.«
Sie blickte auf und sah Johnny Tam an ihrem Schreibtisch stehen. »Wonach hätte ich Sie fragen sollen?«
»Nach dem Massaker im Red Phoenix. Ich habe gerade Frost getroffen. Er erzählte mir, dass Sie beide sich die ganzen Akten haben kommen lassen. Wenn Sie einfach mit mir geredet hätten, dann hätte ich Ihnen alles über den Fall erzählen können.«
»Wieso sollten Sie etwas darüber wissen? Sie waren doch damals gerade mal acht Jahre alt, oder?«
»Mein Revier ist Chinatown, also muss ich wissen, was dort passiert. Die Chinesen reden immer noch über das Red Phoenix, wissen Sie. Es ist wie eine Wunde, die nie verheilt ist. Und nie verheilen wird, wegen der Schande, die damit verbunden ist.«
»Schande? Wieso denn?«
»Der Mörder war einer von uns. Und mit uns meine ich alle Chinesen.« Er deutete auf die Akten auf ihrem Schreibtisch. »Ich habe mir diese Fallakte vor zwei Monaten vorgenommen. Ich habe mit Lou Ingersoll gesprochen. Ich habe die Berichte der Rechtsmedizin gelesen.« Er tippte sich an die Schläfe. »Die ganzen Informationen sind hier drin gespeichert.«
»Ich wusste ja nicht, dass Sie sich so gut mit dem Fall auskennen.«
»Sind Sie denn nicht auf die Idee gekommen, mich zu fragen? Ich dachte, ich gehöre zum Team.«
Sein vorwurfsvoller Ton missfiel ihr. »Ja, Sie gehören zum Team«, gab sie zu. »Ich werde versuchen, es nicht zu vergessen. Aber es dürfte für uns alle wesentlich einfacher werden, wenn Sie es sich abgewöhnen könnten, so empfindlich zu reagieren.«
»Ich will doch nur dabei sein, wenn es richtig zur Sache geht. Und nicht mit der Rolle des Technikfreaks im Hintergrund abgespeist werden, wie es hier allzu oft geschieht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Das Boston PD ist doch angeblich ein einziger, kunterbunter Schmelztiegel, hab ich recht?« Er lachte. »Alles Quatsch.«
Sie betrachtete ihn eine Weile und versuchte, seine versteinerte Miene zu deuten. Und plötzlich sah sie sich selbst in seinem Alter, begierig darauf, sich zu beweisen, und voller Groll, weil sie allzu oft ignoriert wurde. »Setzen Sie sich, Tam«, sagte sie.
Er seufzte, zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz. »Ja?«
»Sie denken, ich habe keine Ahnung, wie es ist, zu einer Minderheit
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