Grabesstille
Achselhaar.«
»Also müsste es ein Kopfhaar sein?«
»Das dachte ich zunächst auch – dass es sich um ein menschliches Haupthaar handelt. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf die Medulla, also das Haarmark. Dieses Haar ist in der Tat äußerst merkwürdig.«
»Könnten Sie etwas genauer sein?«
»Es geht um den Medullarindex. Das ist das Verhältnis des Durchmessers der Medulla zu dem des gesamten Haars. Ich habe schon unzählige menschliche Haare untersucht, aber noch nie habe ich bei einem Haupthaar eine so breite Medulla gesehen. Bei Menschenhaaren liegt der Index normalerweise unter einem Drittel. Aber hier macht die Medulla über die Hälfte des Gesamtdurchmessers aus. Das ist schon kein Kanal mehr, das ist ein regelrechtes Rohr.«
Jane richtete sich auf und sah Erin an. »Könnte es vielleicht irgendeine Krankheit sein? Ein Gendefekt?«
»Mir ist nichts dergleichen bekannt.«
»Und was ist das nun für ein Haar?«, fragte Tam.
Erin holte tief Luft, als suchte sie noch nach den richtigen Worten. »Die übrigen Merkmale deuten fast alle auf ein Menschenhaar hin. Aber es ist keines.«
Janes verblüfftes Lachen durchbrach die Stille. »Und womit haben wir es dann zu tun? Mit einem Yeti?«
»Ich tippe auf irgendeinen Primaten. Eine Art, die ich mittels Lichtmikroskopie nicht identifizieren kann. Es sind keine Epithelzellen vorhanden; wir könnten also allenfalls die Mitochondrien- DNS analysieren.«
»Da müssten wir ja eine Ewigkeit auf die Ergebnisse warten«, meinte Tam.
»Und deshalb überlege ich, es mit einem anderen Test zu versuchen«, sagte Erin. »Ich bin auf einen wissenschaftlichen Artikel aus Indien gestoßen, in dem es um die elektrophoretische Analyse von Haarkeratin geht. Sie haben dort ein Riesenproblem mit illegalem Pelzhandel, und dieser Test dient dazu, die Felle von exotischen Arten zu identifizieren.«
»Welche Labore können diesen Test durchführen?«
»Es gibt verschiedene wildbiologische Laboratorien in den USA , die ich kontaktieren könnte. Auf diese Weise ließe sich die Art vielleicht am schnellsten identifizieren.« Erins Blick ging zum Mikroskop. »Irgendwie werde ich schon noch herausfinden, was diese haarige Kreatur ist.«
Detective a. D. Hank Buckholz sah aus wie ein Mann, der einen langen und zähen Kampf mit dem Teufel Alkohol ausgefochten und sich schließlich in das Unvermeidliche gefügt hatte. Jane fand ihn an seinem Stammplatz am Tresen von J. P. Doyle’s, wo er auf seinem Hocker saß und in sein Whiskyglas starrte. Es war noch nicht fünf Uhr nachmittags, aber wie es aussah, hatte Buckholz für den Abend schon ordentlich Anlauf genommen, und als er aufstand, um sie zu begrüßen, fielen ihr sein zittriger Händedruck und seine wässrigen Augen auf. Doch auch acht Jahre im Ruhestand konnten eingefleischten Gewohnheiten nichts anhaben, und er kleidete sich immer noch wie ein Detective, mit Blazer und Oxford-Hemd, wenngleich Letzteres am Kragen schon leicht ausgefranst war.
Zu dieser frühen Stunde war in der Bar – einem beliebten Treffpunkt der Bostoner Polizeitruppe – noch nicht viel los. Buckholz musste nur die Hand heben, um den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. »Die Dame ist mein Gast«, erklärte er und deutete dabei auf Jane. »Was möchten Sie trinken, Detective?«
»Nichts, danke«, antwortete Jane.
»Ach, kommen Sie. Sie werden einen alten Kollegen doch nicht allein trinken lassen.«
Jane nickte dem Barkeeper zu. »Ein Sam Adams Lager.«
»Und für mich noch mal das Gleiche«, fügte Buckholz hinzu.
»Wollen wir uns an einen Tisch setzen, Hank?«, fragte Jane.
»Ach nee, hier gefällt’s mir ganz gut. Das hier ist mein Platz. Immer schon gewesen. Und außerdem«, fuhr er fort und sah sich in dem fast leeren Lokal um, »wer soll uns denn schon belauschen? Das ist so ein alter Fall, der interessiert doch keinen mehr. Außer vielleicht die Angehörigen.«
»Und Sie.«
»Tja nun, es ist eben verdammt schwer loszulassen, wissen Sie? Auch nach all den Jahren halten mich die Fälle, die ich nicht habe knacken können, in der Nacht noch wach. Und ganz besonders der Fall Charlotte Dion – ich erinnere mich daran, wie sauer ich war, als ihr Vater einen Privatdetektiv engagiert hat, um der Sache nachzugehen. Womit er mir praktisch zu verstehen gab, ich sei als Ermittler eine Niete.« Er schnaubte und nahm einen kräftigen Schluck Whisky. »All das schöne Geld zum Fenster rausgeworfen, nur um zu beweisen, dass ich nichts übersehen
Weitere Kostenlose Bücher