Grabesstille
griff nach seinem Scotch; seine Hand zitterte jetzt nicht mehr. »Schon eine merkwürdige Sache, das Leben.«
»Und der Tod auch.«
Er lachte und trank einen Schluck. »Wie wahr.«
»Können Sie mir irgendetwas zu dem anderen verschwundenen Mädchen sagen? Laura Fang?«
»Das war Sedlaks Fall, Gott hab ihn selig. Ich habe mir die Akte noch mal vorgenommen – wegen der Verbindung zum Red Phoenix. Hab aber keinen Hinweis auf irgendeinen Zusammenhang zwischen den Entführungen gefunden. Ich glaube, dass Charlottes Kidnapper ganz impulsiv zugeschlagen hat. Bei Laura lag die Sache ein wenig anders. Es passierte kurz nach Schulschluss, als sie auf dem Heimweg war. Eine Klassenkameradin sah Laura freiwillig in einen Wagen steigen, als ob sie den Fahrer gekannt hätte. Aber niemand hatte das Kennzeichen notiert, und das Mädchen wurde nie wieder gesehen. Also noch eine Leiche, die nie gefunden wurde.« Er starrte die Batterie von Flaschen hinter dem Tresen an. »Da fragt man sich doch, wie viele Skelette eigentlich in unseren Wäldern und auf den Müllkippen herumliegen. Millionen von Menschen, die in diesem Land vermisst werden. All die Knochen. Ich kann die Tatsache akzeptieren, dass ich eines Tages sterben werde, wenn ich nur einen ordentlichen Grabstein kriege, damit alle Welt weiß, dass ich es bin, der da unten liegt. Aber nie gefunden zu werden? Als ein Haufen Knochen irgendwo im Unterholz enden? Das ist ja, als hätte man nie existiert.« Er schauderte. »Na, jedenfalls ist das mehr oder weniger alles, was ich Ihnen zum Fall Charlotte Dion sagen kann. Hilft Ihnen das irgendwie weiter?«
»Ich weiß nicht. Im Moment ist es nur ein Teil von einem sehr verwirrenden Puzzle.« Jane gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Ich übernehme die Rechnung.«
»Kommt nicht infrage«, widersprach Buckholz.
»Sie haben mir schließlich einen Gefallen getan – Sie haben mir von Charlotte erzählt.«
»Ich bin sowieso immer hier. Auf diesem Hocker, in dieser Bar. Sie wissen, wo Sie mich finden können.« Er sah auf ihr Handy, das zu klingeln begonnen hatte. »Wie ich sehe, sind Sie eine sehr gefragte Frau. Sie Glückspilz.«
»Kommt drauf an, wer dran ist.« Sie meldete sich. »Detective Rizzoli.«
»Es tut mir leid, dass ich zu diesem Anruf gezwungen bin.« Es war die Stimme eines Mannes, und er klang so, als widerstrebte es ihm tatsächlich, mit ihr zu sprechen. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Vorgesetzte von Detective Tam sind?«
»Ja, wir arbeiten zusammen.«
»Ich rufe im Namen der Familien der Opfer an. Wir wären dankbar, wenn wir in Zukunft von Detective Tam verschont bleiben würden. Er hat es geschafft, uns alle aus der Fassung zu bringen. Besonders die arme Mary Gilmore ist ganz aufgewühlt. Warum quält man uns nach all den Jahren wieder mit diesen Fragen?«
Jane massierte ihre Schläfen, und ihr graute schon vor dem Gespräch, das sie mit ihrem jüngeren Kollegen würde führen müssen. Sie sind Polizist, Sie haben der Öffentlichkeit zu dienen. Da dürfen Sie die Menschen nicht so vor den Kopf stoßen. »Es tut mir leid, Sir«, sagte sie. »Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen.«
»Patrick Dion.«
Sie richtete sich auf. Sah Buckholz an, der das Gespräch sehr aufmerksam verfolgte. Einmal ein Cop, immer ein Cop. »Dina Mallory war Ihre Exfrau?«
»Ja. Und es schmerzt, daran erinnert zu werden, wie sie gestorben ist.«
»Ich verstehe, dass es für Sie sehr schwierig ist, Mr. Dion. Aber Detective Tam muss diese Fragen stellen.«
»Dina ist vor neunzehn Jahren gestorben. Es gab nie einen Zweifel daran, wer sie getötet hat. Warum muss man jetzt wieder an diese alten Wunden rühren?«
»Dazu kann ich leider nichts sagen. Es ist …«
»Ja, ich weiß, es ist Teil einer laufenden Ermittlung. Das hat Detective Tam gesagt.«
»Ja, weil es stimmt.«
»Mark Mallory ist deswegen außer sich, und Mary Gilmore und ihre Tochter sind vollkommen verstört. Zuerst bekommen wir diese Briefe mit der Post, und dann fängt auch noch Detective Tam an, uns anzurufen. Wir wüssten alle gerne, warum das jetzt geschieht.«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach sie ihn. »Was sagten Sie da von Briefen?«
»Das geht jetzt schon sechs oder sieben Jahre so. An jedem dreißigsten März haben wir einen davon im Briefkasten, wie eine Art makabrer Gruß zum Jahrestag.«
»Was steht in diesen Briefen?«
»Ich bekomme jedes Mal eine Kopie von Dinas Todesanzeige. Auf der Rückseite steht immer: Wollen
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