Grabesstille
dachte: Gott sei Dank habe ich nie auf diese Leute gehört. Auf keinen von ihnen.
»Hast du an der Schule schon Freunde gefunden?«, fragte sie. »Magst du deine Mitschüler?«
»Sie sind ganz ähnlich wie ich«, sagte er. Er zog eine Kommodenschublade auf und legte Socken und Unterwäsche hinein.
Sie lächelte. »Du meinst, sie sind etwas Besonderes.«
»Sie haben auch keine Eltern.«
Das war ihr neu. Als Sansone ihr erzählt hatte, dass er dem Jungen ein Stipendium am Evensong-Internat anbieten wolle, hatte er die Qualität des Unterrichtsangebots und die idyllische Lage der Schule hervorgehoben, den internationalen Lehrkörper und die hervorragende Bibliothek. Dass es sich um ein Internat für Waisen handelte, hatte er mit keinem Wort erwähnt.
»Bist du dir da sicher?«, fragte sie. »Sicherlich bekommt doch der eine oder andere ab und zu Besuch von seinen Eltern.«
»Manchmal sehe ich eine Tante oder einen Onkel von irgendwem. Aber ich habe noch nie irgendwelche Väter oder Mütter kennengelernt. Er sagt, wir sind jetzt alle eine große Familie.«
»Er?«
»Mr. Sansone.« Rat schloss die Schublade und sah sie an. »Er fragt die ganze Zeit nach Ihnen.«
Maura spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und sie heftete den Blick auf Bear, der sich in seinem Hundebett ein ums andere Mal im Kreis drehte, wie um ein Gefühl für diesen ungewohnten Luxus zu bekommen. »Was will er denn wissen?«
»Ob Sie mir in letzter Zeit geschrieben haben. Ob Sie mich auch mal im Internat besuchen kommen. Und ob Sie vielleicht als Gast dort unterrichten wollten.«
»In Evensong?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht, ob ein Kurs in Rechtsmedizin das Passende für Oberstufenschüler wäre.«
»Aber wir lernen eine Menge coole Sachen. Letzten Monat hat Mrs. Saul uns gezeigt, wie man ein römisches Katapult baut. Und ich durfte ein Referat über Tierspuren halten, weil ich so viel darüber weiß. Wir haben sogar schon ein Pferd seziert.«
»Tatsächlich?«
»Es hatte sich ein Bein gebrochen und musste eingeschläfert werden. Wir haben es aufgeschnitten und seine Organe untersucht.«
»Und das hat dir gar nichts ausgemacht?«
»Ich habe schon Hirsche zerlegt. Ich weiß, wie so ein toter Körper aussieht.«
Ja, das weißt du allerdings, dachte sie. In Wyoming hatte er mit angesehen, wie ein Mann verblutet war. Sie fragte sich, ob er wie sie manchmal aus dem Schlaf hochschreckte, verfolgt von den Erinnerungen an das, was ihnen beiden dort in den Bergen widerfahren war. Er wirkte so ruhig und beherrscht, als er nun seine Schulbücher auf die Kommode legte, als er seine Zahnbürste ins Bad brachte – alle Gefühle sorgfältig unter Verschluss gehalten. Er gleicht mir mehr, als ich zugeben mag.
In der Küche klingelte ihr Handy.
»Kann ich rausgehen und mir den Garten anschauen?«, fragte er.
»Nur zu. Lass mich nur eben diesen Anruf annehmen.«
Sie ging in die Küche und zog das Handy aus ihrer Handtasche. »Dr. Isles«, meldete sie sich.
»Hier ist Detective Tam. Entschuldigen Sie bitte vielmals, dass ich Sie am Wochenende störe.«
»Kein Problem, Detective. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich hätte gerne Ihre Meinung zu einem alten Mordfall gehört. Eine Schießerei in einem Chinarestaurant vor neunzehn Jahren. Es gab fünf Todesopfer. Damals war die Rede von einem erweiterten Suizid.«
»Wieso gehen Sie einer Sache nach, die sich vor neunzehn Jahren zugetragen hat?«
»Es könnte eine Verbindung zu unserer unbekannten Toten auf dem Dach geben. Möglicherweise war das der Grund, weshalb sie nach Chinatown gekommen war. Offenbar wollte sie dort Personen aufsuchen, die etwas über die Schießerei in dem Restaurant wussten.«
»Und was soll ich nun genau tun?«
»Ich möchte Sie bitten, die Obduktionsberichte zu diesen fünf Opfern noch einmal zu überprüfen, besonders den des Todesschützen. Sagen Sie uns, ob Sie mit den Schlussfolgerungen konform gehen. Der Rechtsmediziner, der die Obduktionen durchgeführt hat, ist nicht mehr im Dienst, ihn kann ich also nicht fragen.«
Durch das Küchenfenster sah sie Rat und den Hund im Garten umherlaufen, als suchten sie nach einem Ausgang, einem Fluchtweg hinaus in die freie Natur. Er war ein Junge, der für das Leben in der Wildnis geschaffen schien.
»Diese Woche habe ich leider keine Zeit«, sagte sie. »Vielleicht versuchen Sie es einmal bei Dr. Bristol.«
»Aber ich hatte wirklich gehofft …«
»Ja?«
»Ich würde lieber Ihre Meinung
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