Grabesstille
zwischen ihnen hin- und hergesprungen war, während er ihr Gespräch interessiert verfolgte. »Nein, Sie und Julian haben sich bestimmt viel zu erzählen. Ist es in Ordnung, wenn er die ganze Woche bei Ihnen bleibt?«
»Ich muss Montag und Dienstag arbeiten, aber ab Mittwoch habe ich ein paar Tage frei. Da werden wir uns ein wenig die Stadt anschauen.«
»Dann hole ich dich nächsten Samstag ab, Julian«, sagte Sansone und streckte den Arm aus.
Der Mann und der Junge schüttelten sich die Hand. Es war ein merkwürdig förmlicher Abschied, aber bei den beiden wirkte es vollkommen normal und ganz so, wie es sich gehörte. Rat wartete, bis Sansone zu seinem Wagen gegangen und davongefahren war. Dann erst sah er Maura an.
»Wir haben über Sie geredet«, sagte er. »Auf der Fahrt hierher.«
»Nur Gutes, hoffe ich.«
»Ich glaube, er mag Sie. Sehr sogar.« Rat hob seinen Rucksack auf. »Aber er ist irgendwie seltsam.«
Das würde manch einer auch über dich sagen, dachte sie, als sie den Jungen betrachtete. Über uns beide. Sie legte ihm den Arm um die Schultern und spürte, wie er bei der ungewohnten Berührung zusammenzuckte. Allzu lange hatte der Junge wie ein wildes Tier gelebt, hatte die Bergwälder von Wyoming auf der Suche nach Essbarem durchstreift, und in seinen Augen sah sie immer noch Spuren des verlassenen Kindes, das er einmal gewesen war. Die Welt war nicht gut gewesen zu Julian Perkins, und es würde lange dauern, bis er wieder einem anderen Menschen vertrauen konnte.
Sie gingen hinein, und der Junge sah sich suchend im Wohnzimmer um. »Wo ist denn Bear hin?«
»Ich glaube, er fühlt sich hier schon wie zu Hause. Sicher hat er längst die Leckereien in der Küche entdeckt.«
Und dort fanden sie ihn tatsächlich. Er machte sich gerade über die Lammabfälle her, die sie ihm in eine Keramikschüssel gelegt hatte. Maura hatte nie einen Hund besessen, und die Schüssel war nagelneu, ebenso wie das extragroße Hundebett, die Leine, das Flohpuder und die Dosen mit Hundefutter, die sich in der Speisekammer stapelten. Der Junge machte keinen Schritt ohne Bear, und das bedeutete, dass sie diese Woche ihr Haus mit zwei fremdartigen Wesen teilen musste, einem Hund und einem Teenager. Im Ofen tropfte das Bratenfett zischend von der Lammkeule, und sie sah den Jungen die Nase heben wie ein wildes Tier, das seine Beute wittert.
»Das Essen müsste in einer Stunde fertig sein. Ich zeig euch jetzt erst mal euer Zimmer«, sagte sie und fügte mit einem kritischen Blick auf seinen Rucksack hinzu: »Wo ist denn dein Koffer?«
»Das ist alles, was ich dabeihabe.«
»Dann müssen wir zwei wohl mal Klamotten kaufen gehen.«
»Nein, ich brauche wirklich nichts«, sagte er, als sie den Flur entlanggingen. »In der Schule tragen wir alle Uniformen.«
»Das da ist euer Zimmer.«
Bear trottete zuerst hinein, doch der Junge blieb auf der Schwelle stehen und zögerte, als fragte er sich, ob das Ganze nicht ein Irrtum war. Maura wurde plötzlich bewusst, wie absurd feminin dieses Zimmer als Unterkunft für einen Jungen und einen Hund war. Widerstrebend trat Rat ein und ließ den Blick über die weiße Bettdecke wandern, die Vase mit frischen Schnittblumen auf der Kommode, den blassgrünen Teppich. Er rührte nichts an, als ob das alles Museumsstücke wären und er Angst hätte, etwas zu zerbrechen. Vorsichtig stellte er seinen Rucksack in einer Ecke ab.
»Wie läuft’s in der Schule?«, fragte sie.
»Ganz okay.« Er bückte sich, um den Reißverschluss des Rucksacks zu öffnen und zwei Hemden, einen Pulli und eine Hose hervorzuholen, alles sorgfältig zusammengerollt.
»Es gefällt dir also in Evensong? Bist du glücklich dort?«
»Es ist anders als in meiner alten Schule. Die Leute sind nett zu mir.« Es war eine sachliche Feststellung, geäußert ohne eine Spur von Selbstmitleid, und sie verriet, welche Hölle sein Leben einst gewesen sein musste. Sie hatte seine Akten aus Wyoming gelesen und wusste daher von seinen Schlägereien auf dem Schulhof, von dem Spott, den er wegen seiner zerrissenen Kleider und seiner kaputten Familie hatte erdulden müssen. So viele Menschen, von seinem Betreuer bis hin zu seiner Psychologin, hatten sie gewarnt: Der Junge sei zu sehr mit Problemen belastet, und ihn in ihr Leben aufzunehmen könnte Konsequenzen haben, die sie irgendwann bedauern würde. Jetzt sah sie zu, wie dieser schwierige Junge in aller Ruhe seine Kleider auspackte und sie sorgfältig im Schrank aufhängte, und sie
Weitere Kostenlose Bücher