Grabesstille
sympathisch war oder nicht. Auch jetzt zeigte sein Gesicht diesen distanzierten Ausdruck, doch es war nur eine Maske, die sie noch nicht zu durchschauen gelernt hatte. Sie konnte nur ahnen, was sich dahinter verbarg, und sie fragte sich, ob er diese Maske jemals in Gegenwart eines anderen Menschen fallen ließ.
»Was hoffen Sie in den Berichten zu finden?«, fragte sie.
»Widersprüche vielleicht. Einzelheiten, die nicht zusammenpassen oder keinen Sinn ergeben.«
»Wieso glauben Sie, dass es so etwas geben könnte?«
»Praktisch von dem Moment an, als Staines und Ingersoll den Tatort das erste Mal betraten, war die Rede von einem erweiterten Selbstmord. Ich habe ihren Bericht gelesen, und sie haben keinerlei alternative Erklärungen geprüft. Es war wohl allzu einfach, das Ganze als Wahnsinnstat eines chinesischen Einwanderers abzutun, der in einem Restaurant um sich ballerte. Und sich am Ende selbst die Kugel gab.«
»Sie glauben nicht, dass es ein erweiterter Selbstmord war?«
»Ich weiß es nicht. Aber heute, neunzehn Jahre später, registrieren wir merkwürdige Echos dieses Falls. Unsere unbekannte Tote vom Dach hatte zwei Adressen in ihrem Navigationsgerät. Die eine war die von Detective Ingersolls Privatwohnung. Die andere gehörte Iris Fang, der Witwe eines der Opfer des Massakers. Diese tote Frau war offenbar sehr interessiert am Fall Red Phoenix. Warum, wissen wir nicht.«
Sie hörten den Hund winseln, und als Maura sich umdrehte, sah sie Rat in der Tür stehen, die Haare noch feucht vom Duschen. Er starrte das Obduktionsfoto auf ihrem Computerbildschirm an. Rasch klickte sie auf Minimieren, und das verstörende Bild schrumpfte zusammen.
»Julian, das ist Detective Tam«, sagte sie. »Und das ist mein Gast, Julian Perkins. Er geht in Maine aufs Internat und verbringt die Frühlingsferien hier in Boston.«
»Du bist also der Besitzer dieses furchterregenden Hundes«, sagte Tam.
Der Junge starrte immer noch auf den Monitor, als könne er das Foto nach wie vor sehen. »Wer war sie?«, fragte er leise.
»Es ist bloß ein Fall, über den wir gerade sprechen«, antwortete Maura. »Wir sind fast fertig. Warum gehst du nicht ein wenig fernsehen?«
Tam wartete, bis sie hörten, wie im Wohnzimmer der Fernseher eingeschaltet wurde, ehe er sagte: »Es tut mir leid, dass er das Foto gesehen hat. So einen Anblick sollte man einem Jugendlichen nicht zumuten.«
»Ich werde mir die Unterlagen vornehmen, sobald ich die Zeit finde. Es könnte noch ein wenig dauern. Es eilt ja nicht besonders, oder?«
»Es wäre schön, wenn wir mit unserer unbekannten Toten ein wenig von der Stelle kämen.«
»Das Massaker im Red Phoenix geschah vor neunzehn Jahren«, sagte sie und schaltete ihren Laptop aus. »Ich bin sicher, dass das hier noch ein bisschen länger warten kann.«
13
Noch ehe ich ihn sehe, weiß ich bereits, dass er mein Studio betreten hat; ein Schwall feuchter Nachtluft kündigt ihn an, als die Tür aufgeht und wieder ins Schloss fällt. Ich unterbreche meine Übung nicht, um ihn zu begrüßen, sondern wirble weiter im Kreis und lasse meine Klinge durch die Luft sausen. In dem breiten Spiegel kann ich sehen, dass Detective Frost mich fasziniert beobachtet, während ich den Gesang des Säbels aufführe. Heute fühle ich mich stark, meine Arme und Beine sind so gelenkig wie in jungen Jahren. Jede meiner Bewegungen, jede Drehung, jeder Hieb wird von einer Zeile eines alten Gedichts diktiert.
An den sieben Sternen empor, den Tiger zu reiten,
Aufzufliegen, wie Geister fliegen, geschickt und wendig,
Sich zu verwandeln in den weißen Kranich,
Der seine Schwingen breitet, der sein Bein dabei streckt.
Der Wind weht,
Und die Lotusblüte zittert.
Sämtliche Bewegungen sind mir längst in Fleisch und Blut übergegangen, nahtlos verschmelzen sie ineinander. Ich muss nicht darüber nachdenken, denn mein Körper vergisst sie ebenso wenig, wie er das Gehen oder das Atmen vergessen kann. Mein Säbel wirbelt und zerschneidet die Luft, doch meine Gedanken sind bei dem Polizisten und bei dem, was ich ihm sagen werde.
Ich komme zur dreizehnten und letzten Zeile des Gedichts. Der Phönix kehrt in sein Nest zurück . Ich verharre in der Grundstellung, meine Waffe ruht, und Schweißperlen kühlen mein Gesicht. Jetzt erst wende ich mich ihm zu.
»Das war wunderbar, Mrs. Fang«, sagt Detective Frost und schaut mich aus großen Augen bewundernd an. »Wie ein Tanz.«
»Eine Anfängerübung. Sie hilft mir, am Ende des Tages
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