Grabesstille
hören, Dr. Isles. Ich weiß, dass Sie immer sagen, was Sache ist, und sich durch nichts beirren lassen. Ich vertraue Ihrem Urteil.«
Seine Worte verblüfften sie, denn dies war eine Auffassung, die in den Kreisen des Boston PD in letzter Zeit nicht viele teilten. Sie dachte an die bösen Blicke und das eisige Schweigen, das ihr in der vergangenen Woche von Polizisten entgegengeschlagen war, an die vielfältigen Signale, die ihr das Gefühl gegeben hatten, der Feind zu sein.
»Ich bin heute Abend zu Hause«, sagte sie. »Sie können mir die Akten jederzeit vorbeibringen.«
Es war schon nach neun Uhr, als Bear an der Haustür zu bellen begann. Maura öffnete und sah Detective Tam auf der Schwelle stehen. Er und der Hund beäugten einander eine Weile argwöhnisch, doch nachdem Bear ein paar Mal prüfend geschnuppert hatte, signalisierte er sein Einverständnis, indem er ins Haus zurücktrottete und den Besucher eintreten ließ. Tam bewegte sich mit der gleichen mühsam gebändigten Energie, die ihr schon bei ihrer ersten Begegnung in Chinatown aufgefallen war. In der Diele blieb er stehen und schwenkte wachsam den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch der laufenden Dusche kam. Er stellte die Frage nicht, doch sie konnte sie in seinen Augen lesen.
»Ich habe diese Woche einen Gast im Haus«, sagte sie.
»Tut mir leid, dass ich Sie am Wochenende störe.« Er drückte ihr einen Stapel Fotokopien in die Hand. »Das sind alle vier Obduktionsberichte und dazu die Akte des Boston PD , die damals von Detective Ingersoll und Detective Staines angelegt wurde.«
»Wow. Sie haben sich ja offensichtlich sehr viel Mühe gemacht.«
»Das ist mein erster Mordfall. Der Eifer des Anfängers, verstehen Sie?« Er zog einen USB -Stick aus der Tasche. »Ich durfte keine Originale aus der Rechtsmedizin mitnehmen, also habe ich die Fotos und Röntgenaufnahmen für Sie gescannt. Mir ist klar, dass es enorm viel Arbeit ist, und es tut mir leid, dass ich Sie damit belaste.« Während er ihr den Stick in die Hand drückte, sah er ihr direkt in die Augen, als wollte er betonen, wie wichtig ihm diese Sache war und dass er sein ganzes Vertrauen in sie setzte.
Seine Berührung ließ sie erröten, und sie senkte den Blick auf den USB -Stick. »Warten Sie, ich will mich nur noch eben vergewissern, dass ich die Dateien auch auf meinen Computer laden kann«, sagte sie. Sie gingen in ihr Büro, und während sie ihren Laptop hochfuhr, betrachtete Tam den Hund, der ihnen gefolgt war und nun zu Tams Füßen saß, als wollte er den unbekannten Besucher nicht aus den Augen lassen.
»Was ist das für eine Rasse?«, fragte Tam.
»Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich Schäferhund mit einem Schuss Wolfshund oder Husky. Er gehört meinem Gast.«
»Sie sind aber eine nette Gastgeberin, wenn Sie Ihrem Gast erlauben, einen Hund mitzubringen.«
»Ich verdanke diesem Hund mein Leben. Von mir aus kann er bleiben, so lange er mag.« Sie steckte den USB -Stick ein, und nach einer Weile erschien eine Reihe von Vorschaubildern auf dem Monitor. Sie klickte das erste an, worauf das grausige Foto eines nackten Frauenkörpers auf dem Seziertisch den Bildschirm füllte. »Lässt sich offenbar problemlos herunterladen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wann ich dazu komme, mir das Material vorzunehmen, aber diese Woche schaffe ich es sicher nicht.«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Dr. Isles.«
Sie richtete sich auf und sah ihn an. »Dr. Bristol und Dr. Costas sind beide sehr gute Rechtsmediziner. Auf ihr Urteil können Sie sich verlassen. Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie sich nicht an die beiden gewandt haben?«
Er zögerte und blickte in Richtung Bad, wo die Dusche soeben abgestellt worden war. Bear spitzte die Ohren und tappte zur Bürotür hinaus.
»Detective?«, fragte sie.
Widerstrebend antwortete er: »Ich nehme an, Sie wissen, was so über Sie geredet wird. Wegen dieser Sache mit dem Prozess gegen Wayne Graff.«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Alles nicht besonders schmeichelhaft, nehme ich an.«
»Der Korpsgeist bei der Polizei ist, wie Sie wissen, ausgesprochen stark. Kritik ist da nicht willkommen.«
»Auch nicht, wenn es die Wahrheit ist«, entgegnete sie bitter.
»Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Weil ich weiß, dass Sie die Wahrheit sagen.« Er sah ihr in die Augen, offen und unverwandt. An dem Tag, als sie sich in Chinatown begegnet waren, hatte er so unnahbar gewirkt, und sie hatte nicht erkennen können, ob sie ihm
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