Grabesstille
zur Ruhe zu kommen.«
Er senkt den Blick auf den Säbel, den ich in der Hand halte. »Ist das ein echtes Schwert?«
»Es heißt Zheng Yi. Es ist ein Erbstück von meiner Ururgroßmutter.«
»Dann muss es ja richtig alt sein.«
»Und in der Schlacht erprobt. Es wurde für den Kampf gemacht. Wenn Sie nie mit einem echten Kampfschwert üben, dann lernen Sie auch nie, mit seinem Gewicht zu arbeiten, zu spüren, wie es sich in Ihrer Hand anfühlt.« Ich führe zwei blitzschnelle Lufthiebe aus, und er zuckt erschrocken zurück. Lächelnd halte ich ihm den Griff hin. »Nehmen Sie es. Spüren Sie sein Gewicht.«
Er zögert, als könnte es ihm einen Stromschlag versetzen. Vorsichtig packt er den Griff und schwingt die Klinge linkisch durch die Luft. »Es fühlt sich irgendwie nicht natürlich an«, sagt er.
»Nicht?«
»Das Gewicht scheint mir merkwürdig verteilt zu sein.«
»Das liegt daran, dass es nicht bloß ein Zeremonienschwert ist, sondern ein Original-Dao. Ein echter chinesischer Säbel. Diese Form nennt sich ›Weidenblatt‹. Sehen Sie, wie es über die ganze Länge der Klinge gebogen ist? Es war die übliche Handwaffe der Soldaten während der Ming-Dynastie.«
»Wann war das?«
»Vor rund sechshundert Jahren. Zheng Yi wurde in der Provinz Gansu gefertigt, in einer Zeit, als dort Krieg herrschte.« Ich halte inne und füge betrübt hinzu: »Leider war das im alten China allzu oft der Normalzustand.«
»Dieser Säbel wurde also tatsächlich in der Schlacht eingesetzt?«
»Das weiß ich sicher. Wenn ich ihn halte, kann ich noch die Musik der alten Schlachten in der Klinge spüren.«
Er lacht. »Sollte ich jemals in einer dunklen Gasse überfallen werden, Mrs. Fang, würde ich mir Sie an meiner Seite wünschen.«
»Sie sind derjenige mit der Schusswaffe. Sollten Sie nicht mich beschützen?«
»Ich bin sicher, dass Sie das ganz gut allein hinbekommen.« Er gibt mir die Waffe zurück. Ich kann sehen, dass es ihn nervös macht, auch nur in der Nähe dieser rasiermesserscharfen Klinge zu sein. Mit einer Verbeugung nehme ich den Säbel wieder an mich und sehe Detective Frost unverwandt an. Meine Direktheit lässt ihn erröten, eine Reaktion, die ich von einem Polizisten nicht erwartet hätte und schon gar nicht von einem erfahrenen Mordermittler. Doch dieser Mann hat etwas überraschend Weiches an sich, eine Verletzlichkeit, die mich plötzlich an meinen Mann erinnert. Detective Frost ist ungefähr so alt, wie James es war, als er starb, und im Gesicht dieses Mannes erkenne ich James’ schüchternes Lächeln, seine höfliche und zuvorkommende Art.
»Sie haben noch weitere Fragen an mich, Detective?«
»Ja. Es betrifft eine Sache, von der wir noch nichts wussten, als wir Sie das erste Mal befragten.«
»Und welche Sache wäre das?«
Es scheint ihm zu widerstreben auszusprechen, was er denkt. Schon kann ich die Abbitte in seinen Augen sehen. »Es geht um Ihre Tochter Laura.«
Die Erwähnung von Lauras Namen ist wie ein heftiger Schlag gegen meine Brust. Damit habe ich nicht gerechnet, und ich wanke getroffen.
»Es tut mir so leid, Mrs. Fang«, sagt er und streckt die Hand aus, um mich zu stützen. »Ich weiß, wie sehr Sie das mitnehmen muss. Geht es wieder? Möchten Sie sich setzen?«
»Es ist nur …« Ich schüttle benommen den Kopf. »Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen.«
»Möchten Sie jetzt vielleicht etwas essen? Kann ich Sie irgendwo hinbringen?«
»Vielleicht sollten wir uns lieber ein andermal unterhalten.«
»Es wären nur ein paar Fragen.« Er hält inne. Und fügt leise hinzu: »Ich habe auch noch nicht zu Abend gegessen.«
Einen Moment lang hängen seine Worte in der Luft. Sie sind ein Versuchsballon. Meine Finger klammern sich um den Griff meines Säbels, eine instinktive Reaktion in einer Situation, in der es keine Gewissheiten gibt. In jeder Gefahr liegt eine Chance. Er ist Polizist, aber ich kann in ihm nichts erkennen, was meinen Argwohn weckt, nur einen aufmerksamen jungen Mann mit einem freundlichen Gesicht. Und ich muss unbedingt herausfinden, warum er nach Laura fragt.
Ich schiebe Zheng Yi in seine Scheide. »In der Beach Street gibt es ein Dim-Sum-Lokal.«
Er lächelt, und die Veränderung in seinem Gesicht ist verblüffend. Er wirkt plötzlich viel jünger. »Das kenne ich.«
»Warten Sie, ich hole nur schnell meinen Regenmantel. Wir können zu Fuß gehen.«
Draußen schlendern wir zusammen durch das feine Frühlingsnieseln, doch wir wahren einen taktvollen
Weitere Kostenlose Bücher