Grabesstille
Abstand zwischen uns. Ich habe Zheng Yi mitgenommen, denn der Säbel ist zu kostbar, als dass ich ihn im Studio zurücklassen könnte. Und weil er mich stets beschützt hat vor all den Bedrohungen, die ich nicht sehen kann. Selbst an diesem regnerischen Abend ist Chinatown voller Leben, in den Straßen wimmelt es von hungrigen Touristen, die sich auf ihre gebratene Ente oder ihren geschmorten Fisch mit Ingwer freuen. Während wir gehen, versuche ich, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren und unter den Passanten, die uns entgegenkommen, auf jedes unbekannte Gesicht zu achten. Doch Detective Frost lenkt mich mit seiner überschwänglichen Redseligkeit permanent ab.
»Das hier ist mein Lieblingsviertel von Boston«, sagt er und breitet die Arme aus, als wollte er Chinatown und jeden Einzelnen seiner Bewohner an sein Herz drücken. »Es hat das beste Essen, die besten Märkte und die interessantesten kleinen Seitenstraßen. Ich komme immer wieder gerne hierher.«
»Auch wenn der Anlass ein Leichenfund ist?«
»Na ja, das weniger«, antwortet er und lacht verlegen. »Aber dieses Viertel hat einfach etwas. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich eigentlich hierher gehöre. Als ob es reiner Zufall wäre, dass ich nicht als Chinese geboren bin.«
»Ah. Sie glauben, dass Sie wiedergeboren wurden.«
»Ja, genau. Als durch und durch amerikanischer Junge aus South Boston.« Er sieht mich an, und sein Gesicht glänzt in der feuchten Luft. »Sie sagten, dass Sie aus Taiwan stammen?«
»Waren Sie schon einmal dort?«
Er schüttelt bedauernd den Kopf. »Ich bin noch nicht so viel herumgekommen, wie ich es mir wünschen würde. Aber immerhin haben wir unsere Hochzeitsreise nach Frankreich gemacht.«
»Was macht Ihre Frau beruflich?«
Als er mit der Antwort zögert, drehe ich mich zu ihm um und sehe, dass er den Kopf gesenkt hat. »Sie studiert Jura«, sagt er leise. Und fügt nach einer Pause hinzu: »Wir haben uns getrennt. Letzten Sommer.«
»Das tut mir leid.«
»Ich fürchte, es war kein besonders gutes Jahr«, sagt er, und dann scheint er sich plötzlich daran zu erinnern, mit wem er redet. Mit der Frau, die nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Tochter verloren hat. »Aber eigentlich kann ich mich gar nicht beklagen.«
»Die Einsamkeit ist für jeden Menschen schwer zu ertragen. Aber ich bin sicher, dass Sie wieder jemanden finden werden.«
Er schaut mich an, und ich sehe den Schmerz in seinen Augen. »Aber Sie haben nie wieder geheiratet, Mrs. Fang.«
»Nein.«
»Es muss doch Männer gegeben haben, die sich für Sie interessiert haben.«
»Wie kann man die Liebe seines Lebens ersetzen?«, entgegne ich schlicht. »James ist mein Mann. Er wird immer mein Mann sein.«
Er braucht eine Weile, um das zu verarbeiten. Dann sagt er: »Ich habe immer schon gedacht, dass wahre Liebe so sein sollte.«
»Und so ist sie auch.«
Seine Augen leuchten geradezu unnatürlich, als er mich ansieht. »Nur für manche von uns.«
Wir sind an dem Restaurant angelangt, dessen Fenster vom Dampf beschlagen sind. Er eilt rasch voraus, um mir die Tür aufzuhalten, eine ritterliche Geste, die mir ironisch vorkommt, da ja ich diejenige bin, die einen tödlichen Säbel bei sich trägt. Das kleine Lokal ist gut besucht, und wir haben Glück, dass wir den letzten freien Tisch hinten in der Ecke am Fenster ergattern können. Ich hänge die Säbelscheide über die Stuhllehne und ziehe meinen Regenmantel aus. Aus der Küche dringt ein verführerischer Duft nach Knoblauch und frischem Dampfbrot, der mich schmerzlich daran erinnert, dass ich seit dem Frühstück nichts gegessen habe. Tabletts mit glänzenden Teigtaschen, gefüllt mit kleinen Schweinefleisch-, Krabben- oder Fischstückchen, werden aus der Küche getragen; am Nebentisch klappern Essstäbchen in Schalen, und eine Familie unterhält sich so lärmend auf Kantonesisch, dass es wie ein Streit klingt.
Frost studiert mit verwirrter Miene die ellenlange Speisekarte. »Vielleicht sollte ich Sie für uns beide bestellen lassen.«
»Gibt es irgendetwas, was Sie nicht essen?«
»Ich esse alles.«
»Diese Aussage werden Sie vielleicht noch bereuen. Wir Chinesen essen nämlich wirklich alles.«
Er nimmt die Herausforderung gut gelaunt an. »Ich lass mich gerne überraschen.«
Als die Kellnerin unseren Vorspeisenteller mit kalten Quallenstreifen, Hühnerkrallen und marinierten Schweinefüßen bringt, hält er seine Stäbchen zögernd über die fremdartige Auswahl, doch dann beißt er
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