Grabesstille
Schmerz verstehe. Er hat nie geantwortet.« Ich blicke wieder zu Frost auf. »Ich weiß also sehr wohl, warum Sie nach Charlotte fragen. Sie stellen sich die gleiche Frage, die alle beschäftigt. Die Frage, die auch ich mir gestellt habe. Wie ist es möglich, dass ein solcher Fluch auf zwei Familien lastet? Zuerst verschwindet meine Laura, und dann, zwei Jahre später, seine Charlotte. Unsere Familien sind sowohl durch das Red-Phoenix-Massaker als auch durch den Verlust unserer Töchter miteinander verbunden. Sie sind gewiss nicht der erste Polizist, der mich darauf anspricht.«
»Detective Buckholz hat Sie auch danach gefragt, nehme ich an.«
Ich nicke. »Nach Charlottes Verschwinden suchte er mich auf, um mich zu fragen, ob die beiden Mädchen sich gekannt hätten. Charlottes Vater ist sehr reich, also wurde ihr sehr viel Aufmerksamkeit zuteil. Weit mehr, als Laura je bekam.«
»Buckholz schrieb in seinem Bericht, dass Laura und Charlotte beide klassischen Musikunterricht hatten.«
»Meine Tochter spielte Geige.«
»Und Charlotte spielte Bratsche in ihrem Schulorchester. Ist es denkbar, dass sie sich begegnet sind? Bei einem Musik-Workshop zum Beispiel?«
Ich schüttle den Kopf. »Das habe ich schon ausgiebigst mit der Polizei durchgesprochen. Bis auf die Musik hatten die Mädchen nichts gemeinsam. Charlotte ging auf eine Privatschule. Und wir leben hier in Chinatown.« Ich verstumme, und mein Blick geht zum Nebentisch, wo ein chinesisches Paar mit seinen Kindern sitzt. Im Hochstuhl thront ein kleines Mädchen mit Zöpfen, die wie kleine Teufelshörner von ihrem Kopf abstehen. Genau so habe ich Laura die Haare gemacht, als sie drei Jahre alt war.
Die Kellnerin bringt uns die Rechnung. Ich greife danach, doch Frost schnappt sie mir weg.
»Bitte«, sagt er, »lassen Sie mich das übernehmen.«
»Fürs Essen sollte immer der Ältere bezahlen.«
»Das ist ein Wort, das ich im Zusammenhang mit Ihnen nie benutzen würde, Mrs. Fang. Und außerdem habe ich neunzig Prozent von diesem Menü gegessen.« Er legt Geld auf den Tisch. »Ich fahre Sie nach Hause.«
»Ich wohne nur ein paar Blocks von hier entfernt, in Tai Tung Village. Es ist einfacher, wenn ich zu Fuß gehe.«
»Dann begleite ich Sie. Nur zur Sicherheit.«
»Zu Ihrem Schutz oder zu meinem?«, frage ich, während ich nach meinem Säbel greife.
Er sieht Zheng Yi an und lacht. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie ja bewaffnet und gefährlich sind.«
»Es ist also nicht nötig, dass Sie mich nach Hause begleiten.«
»Bitte. Es wäre mir wirklich wohler, wenn ich es täte.«
Es nieselt immer noch, als wir aus der Tür treten, und nach der dampfigen Hitze im Restaurant ist es eine Wohltat, die kühle Luft zu atmen. Die feinen Regentröpfchen glitzern in seinen Haaren, und trotz der frischen Witterung spüre ich eine unerwartete Wärme in den Wangen. Er hat das Essen bezahlt, und jetzt besteht er darauf, mich nach Hause zu begleiten. Es ist lange her, dass ein Mann mir gegenüber so aufmerksam gewesen ist, und ich weiß nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen oder mich darüber ärgern soll, dass er mich für so hilflos hält.
Wir gehen die Tyler Street entlang Richtung Süden, auf die alte Enklave Tai Tung City zu, in einen Teil von Chinatown, der ruhiger und weniger belebt ist. Hier gibt es keine Touristen, nur heruntergekommene Gebäude mit staubigen Läden im Erdgeschoss, die um diese Zeit alle mit Eisengittern verrammelt sind. Vorhin, in dem hell erleuchteten Restaurant, konnte ich in meiner Wachsamkeit nachlassen und mich entspannen. Jetzt fühle ich mich schutzlos, obwohl ich einen bewaffneten Detective an meiner Seite weiß. Wir lassen die hell erleuchteten Straßen hinter uns, und die Schatten werden dichter. Ich höre meinen eigenen Herzschlag, das seufzende Geräusch, mit dem der Atem in meine Lunge und wieder hinausströmt. Der Gesang des Säbels geht mir durch den Sinn, Worte, die mich beruhigen und zugleich vorbereiten auf alles, was da kommen mag.
Grüner Drache taucht aus dem Wasser auf.
Der Wind weht durch die Blumen.
Weiße Wolken ziehen am Himmel vorbei.
Schwarzer Tiger durchstreift die Berge.
Meine Hand geht zum Knauf meines Säbels, der in der Scheide ruht, jederzeit bereit. Wir schreiten durch Dunkelheit und Licht und wieder Dunkelheit, und die Nacht selbst scheint zu erzittern, als meine Sinne sich schärfen.
Schlage das Gras zur Linken, die Schlange zu suchen.
Schlage das Gras zur Rechten, die Schlange zu suchen.
Die
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