Grabesstille
überzeugt, dass Sie dahinterstecken. Sie schicken ihnen Kopien der Todesanzeigen ihrer Angehörigen. Um sie an das schlimme Geschehen zu erinnern.«
»Um sie zu erinnern ?« Iris wurde ganz starr. »Was sind das für Familien, die daran erinnert werden müssen?« Zum ersten Mal bebte ihre Stimme vor Empörung. »Ich lebe mit meinen Erinnerungen. Sie sind immer da, sogar, wenn ich schlafe.«
»Haben Sie irgendwelche Briefe erhalten?«
»Nein. Aber mich muss ja auch niemand erinnern. Von allen Angehörigen scheine ich die Einzige zu sein, die je Fragen gestellt hat. Die Antworten gefordert hat.«
»Wenn Sie die Botschaften nicht schicken, wissen Sie dann vielleicht, wer es sein könnte?«
»Vielleicht jemand, der glaubt, dass die Wahrheit unterdrückt wurde.«
»Wie zum Beispiel Sie.«
»Aber ich habe keine Angst, es auszusprechen.«
»Stimmt, und zwar in aller Öffentlichkeit. Wir wissen, dass Sie letzten Monat diese Anzeige im Globe geschaltet haben.«
»Wenn Ihr Mann ermordet worden wäre und Sie wüssten, dass der Mörder nie bestraft wurde, würden Sie etwa nicht alles daransetzen? Ganz egal, wie viele Jahre schon vergangen wären?«
Einige Sekunden verstrichen, während die beiden Frauen einander anstarrten. Jane stellte sich vor, sie würde jeden Morgen in dieser schäbigen Wohnung aufwachen, müsste mit diesem unaussprechlichen Schmerz leben, besessen vom Gedanken an ihr verlorenes Glück. Sie musste nur in diesem Zimmer sitzen, in diesem zerschlissenen Sessel, und schon spürte sie die Verzweiflung wie eine drückende Last auf ihren Schultern, die sie herunterzog und alle Lebensfreude erstickte. Und dabei ist es ja gar nicht mein Leben, dachte sie. Ich kann jederzeit nach Hause gehen und meinen Mann küssen, kann meine Tochter in den Arm nehmen und sie ins Bett bringen. Aber Iris wird immer hier gefangen sein.
»Es ist neunzehn Jahre her, Mrs. Fang«, sagte Jane. »Ich verstehe, dass es nicht leicht ist, die Vergangenheit loszulassen. Aber die anderen Familien wollten genau das. Patrick Dion, Mark Mallory – sie haben keinerlei Zweifel, dass Wu Weimin der Täter war. Vielleicht wird es Zeit, dass auch Sie akzeptieren, was die anderen längst akzeptiert haben.«
Iris reckte das Kinn, und ihre Augen waren hart wie Stahl. »Ich bin nicht bereit, irgendetwas anderes zu akzeptieren als die Wahrheit.«
»Woher wissen Sie, dass es nicht die Wahrheit ist? Laut Polizeibericht waren die Beweise gegen Wu Weimin erdrückend.«
»Die Polizei hat ihn nicht gekannt.«
»Können Sie wirklich sicher sagen, dass Sie ihn gekannt haben?«
»Ja, vollkommen sicher. Und dies ist meine letzte Chance, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen.«
Jane sah sie an und runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das, Ihre letzte Chance?«
Iris holte tief Luft und hob den Kopf. Der Blick, mit dem sie Jane ansah, war würdevoll und gelassen. »Ich bin krank.«
Es wurde ganz still im Raum. Diese schlichte Aussage hatte sie alle erschüttert. Iris saß vollkommen gefasst da und starrte Jane an, als wollte sie jegliche Mitleidsbekundungen von vornherein abwehren.
»Ich leide an einer chronischen Form von Leukämie«, sagte Iris. »Der Arzt sagt mir, ich könnte noch zehn Jahre leben. Oder vielleicht sogar zwanzig. An manchen Tagen fühle ich mich völlig gesund. An anderen Tagen bin ich so müde, dass ich kaum den Kopf vom Kissen heben kann. Irgendwann wird diese Krankheit mich wahrscheinlich umbringen, aber ich habe keine Angst. Ich weigere mich nur zu sterben, ohne die Wahrheit erfahren zu haben. Ohne die Gewissheit, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.« Sie hielt inne, und zum ersten Mal schlich sich ein Unterton von Angst in ihre Stimme ein. »Ich habe das Gefühl, dass mir die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt.«
Frost trat hinter Iris und legte ihr die Hand auf die Schulter. Es war einfach nur eine Geste des Mitgefühls, die von jedem hätte kommen können, aber Jane gab diese Berührung zu denken, vor allem in Verbindung mit dem betroffenen Blick in Frosts Augen.
»Sie kann heute Nacht nicht allein hierbleiben«, sagte Frost. »Es ist nicht sicher.«
Tam meldete sich zu Wort. »Ich habe eben mit Bella Li telefoniert. Mrs. Fang kann die Nacht bei ihr verbringen, während die Spurensicherung sich die Wohnung vornimmt.«
»Ich fahre sie hin«, sagte Frost.
»Nein«, widersprach Jane. »Tam wird sie hinbringen. Mrs. Fang, wie wär’s, wenn Sie rasch ein paar Sachen einpacken?« Sie erhob sich von ihrem Sessel.
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